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Werner, Micha H. (2002):

Diskursethik

Vorläufiges, nicht zitierfähiges Online-Manuskript.
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Die Druckfassung ist erschienen in:
Marcus Düwell / Christoph Hübenthal /
Micha H. Werner (2002, Hg.):
Handbuch Ethik.
Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler, S. 140-151.




1 Allgemeine Charakterisierung

1.1 Diskursethik als allgemeine normative Ethik

Der Name ,,Diskursethik`` könnte zu der Auffassung verleiten, es handele sich bei der so bezeichneten Ethik um eine spezifische Ethik für die Diskurspraxis. ,,Diskursethik`` würde dann eine Bereichsethik bezeichnen, vergleichbar etwa mit der Medizinethik, Technikethik oder Sportethik. Dies wäre jedoch ein Missverständnis. Die Diskursethik beansprucht den Status einer Allgemeinen Ethik. Insofern ist sie z.B. mit der Ethik Kants, dem Kontraktualismus oder dem Utilitarismus zu vergleichen. Die Diskursethik soll also nicht nur klären, wie wir innerhalb von Diskursen richtig handeln. Vielmehr will sie eine Antwort auf die Frage geben, woran wir unser Handeln überhaupt, in jeder Situation, orientieren sollen. Ihren Namen verdankt die Diskursethik dem Umstand, dass sie bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, auf die Diskurspraxis Bezug nimmt. Dies tut sie in zweierlei Weise:

Erstens versucht sie, das diskursethische Moralprinzip durch eine Reflexion auf die Diskurspraxis zu begründen. Mittels dieser Diskursreflexion soll aufgewiesen werden, dass jede Person, die an einem Diskurs teilnimmt - jede Person also, die beispielsweise Behauptungen aufstellt, bestreitet oder in Frage stellt - das Moralprinzip implizit 'immer schon' als verbindlich anerkannt hat. Das bedeutet, dass niemand die Verbindlichkeit dieses Prinzips bestreiten oder bezweifeln kann, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten. Man könnte auch formulieren: es bedeutet, dass sich die Verbindlichkeit dieses Prinzip nicht sinnvoll bezweifeln lässt. Das Moralprinzip wird dabei als das höchste Prinzip der normativen Ethik verstanden. Diesem Prinzip soll jedes Handeln genügen.

Zweitens verweist das diskursethische Moralprinzip auch seinem Gehalt nach noch einmal auf die Praxis des argumentativen Diskurses. Es besagt nämlich, dass genau diejenige Handlungsweise moralisch richtig ist, der alle - insbesondere die von dieser Handlungsweise Betroffenen - als Teilnehmer/innen eines zwanglos geführten argumentativen Diskurses zustimmen könnten. Folgt man diesem Prinzip, scheint es prima facie geboten, in Fällen moralischer Ungewissheit reale Diskurse zu führen, um festzustellen, welche Handlungsweise moralisch richtig ist.

Zusammenfassend kann man also sagen: Die Diskursethik setzt sowohl bei der Begründung des Moralprinzips als auch bei der Orientierung an diesem Moralprinzip auf die Praxis des argumentativen Diskurses.

1.2 Diskursethik als Prinzipienethik im Sinne Kants

Aus dem Gesagten geht bereits hervor, dass es sich bei der Diskursethik um eine Prinzipienethik im Sinne der Ethik Kants handelt. Prinzipienethiken des kantischen Typs sehen ihre Aufgabe zunächst in der Formulierung und Begründung eines einzigen Prinzips, des Moralprinzips. Dieses Moralprinzip sagt uns nicht unmittelbar, wie wir im Einzelfall oder in Situationen eines bestimmten Typs handeln sollen. Es ist keine einfache, 'materiale' Handlungsnorm, wie z.B.: ,,Du sollst nicht lügen!``. Vielmehr gibt das Moralprinzip an, wodurch moralisch richtige Handlungsorientierungen sich überhaupt auszeichnen. Es gibt an, was die verschiedenen moralisch richtigen Handlungsorientierungen - also Handlungsgrundsätze wie: ,,Ich will nicht lügen!``, ,,Ich will die Interessen aller Menschen in gleicher Weise berücksichtigen!``, ,,Ich will in Not geratenen Menschen helfen!`` - miteinander gemein haben. Es handelt sich bei dem diskursetischen Moralprinzip also um ein 'formales' bzw. 'prozedurales' Prinzip oder, wie Diskursethiker/innen manchmal formulieren, um eine Metanorm. Das Moralprinzip erlaubt - und gebietet - uns, alle übrigen Handlungsorientierungen daraufhin zu prüfen, ob sie moralisch richtig sind. Und es gebietet, in der solcherart als richtig erkannten Weise zu handeln. Als eine Prinzipienethik kantischen Typs ist die Diskursethik zweistufig angelegt: ,,Die erste Stufe besteht in der Letztbegründungsargumentation, die zur Aufdeckung der [...] Metanorm``, d.h. des Moralprinzips, führt.


,,Die zweite Stufe dagegen besteht in dem konkreten praktischen Diskurs [...], der reguliert werden soll durch die verbindliche Metanorm. Erst auf dieser Stufe [...] kommt es zu der [...] konkreten Hilfe bei der Orientierung im Handeln, kommt es zu konkreten Gehalten. [...] Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu sehen, dass es zur für die Anwendung erforderlichen Konkretisierung des Gehalts der Grundnorm nicht dadurch kommt, dass aus der Grundnorm deduktiv speziellere Konsequenzen abgeleitet werden [...], sondern dadurch, dass in den praktischen Diskurs die Argumentierenden ihre Bedürfnisse, Interessen, ihre konkreten Vorschläge als Material der Bearbeitung einbringen, als Material, das am Ende im Sinne des von der Grundnorm vorgeschriebenen praktischen Konsenses zu modifizieren ist`` (Kuhlmann 1985, S. 246 f., vgl. auch Habermas 1991, S. 21).


Die folgende Darstellung wird sich an der Abfolge dieser Stufen orientieren. Dabei wird zunächst eine Formulierung des diskursethischen Moralprinzips vorgestellt (1.3). Dann wird versucht zu erläutern, wie sich die Diskursethiker/innen ungefähr den 'ersten Schritt', also die Begründung des Moralprinzips, vorstellen (1.4). Schließlich wird, im Sinne von Kuhlmanns 'zweitem Schritt', ein Modell der Orientierung an diesem Moralprinzip vorgeschlagen (1.5 und 1.6). Da die Diskussion der Diskursethiker/innen bis heute durch eine bemerkenswerte Vielfalt der Stimmen gekennzeichnet ist, müssen im Rahmen einer Überblicksdarstellung erhebliche Vereinfachungen und Vereinheitlichungen vorgenommen werden. Insbesondere für das in (1.5) und (1.6) vorgeschlagene Modell der Orientierung am diskursethischen Moralprinzip kann nur der Autor selbst die Verantwortung tragen.

Im Anschluss an den Versuch einer allgemeinen Charakterisierung der Theorie soll dann versucht werden, Charakteristika und Entwicklung der beiden prominentesten Versionen der Diskursethik (derjenigen von Karl-Otto Apel und der von Jürgen Habermas) etwas genauer nachzuzeichnen. (2) Den Schluss bilden einige knappe Bemerkungen zur Relevanz der Diskursethik für Fragen der bereichsspezifischen Ethik. (3)

1.3 Das Moralprinzip

Das diskursethische Moralprinzip lässt sich als eine Modifikation des kantischen Moralprinzips verstehen.

Das von Kant formulierte Moralprinzip gebietet, stets in der Weise zu handeln, ,,dass ich auch wollen könne, meine Maxime [d.h. der von mir in meinem Handeln jeweils gewählte subjektive Handlungsgrundsatz, M.H.W.] solle ein allgemeines Gesetz werden`` (Kant 1968a, S. 402). Das kantische Moralprinzip ist also als Kriterium zur Prüfung von Maximen zu verstehen: Ich als Handelnder muss wollen können, dass auch alle anderen sich an derjenigen Maxime orientieren, der ich selbst in meinem Handeln folge. Würde ich nach Grundsätzen handeln, von denen ich entweder nicht wollen kann - oder jedenfalls nicht vernünftigerweise wollen würde -, dass alle sie befolgen, so wäre dies unmoralisch.

Kants Moralprinzip wird von der Diskursethik in einem entscheidenden Punkt verschärft (man kann darüber streiten, inwieweit es sich wirklich um eine Verschärfung handelt und inwieweit bloß um eine adäquate Explikation dessen, was Kant selbst im Sinn hatte): Der Diskursethik zufolge ist es nicht hinreichend, dass ich - d.h. das jeweilige Handlungssubjekt - wollen kann, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden. Wir alle - d.h. alle Vernunftsubjekte und zumal alle diejenigen, die von der Maximenbefolgung betroffen sind - müssen die jeweilige Handlungsmaxime als ein allgemeines Gesetz wollen können. Die Diskursethik versteht dieses 'Wollen-Können' in einem anspruchsvollen Sinn, nämlich als rationale Zustimmungsfähigkeit im Rahmen eines unbeschränkten, zwanglosen argumentativen Diskurses (zum Diskursbegriff vgl. Böhler/Gronke 1994). Das diskursethische Moralprinzip fordert demnach, stets so zu handeln, dass alle Vernunftwesen (und zumal alle von der Handlungsweise potenziell Betroffenen) dem jeweils gewählten Handlungsgrundsatz in einem unbegrenzten argumentativen Diskurs zustimmen könnten.

1.4 Begründung des Moralprinzips

Im Rahmen von Prinzipienethiken kantischen Typs kommt der Begründung des Moralprinzips entscheidende Bedeutung zu. Nach Auffassung der Diskursethiker/innen reicht es als Rechtfertigung nicht aus, dass das Moralprinzip den Moraladressaten lediglich plausibel erscheint. Denn zum Sinn moralischer Verpflichtungen gehört, wie vor allem Kant betont hat, ihre unbedingte (kantisch gesprochen: kategorische) Verbindlichkeit. Diese These über den Sinn moralischer Verpflichtungen darf nicht mit der von Kant ebenfalls vertretenen rigoristischen These verwechselt werden, dass bestimmte 'materiale' moralische Normen, wie etwa das Lügenverbot, unter allen Umständen zu befolgen seien. Dass es jederzeit unbedingte Pflicht ist, in der moralisch richtigen, d.h. dem Moralprinzip gemäßen Weise zu handeln, ist nämlich durchaus vereinbar mit der Möglichkeit, dass die Befolgung einer bestimmten, prima facie gültigen moralischen Norm (z.B.: ,,Du sollst nicht lügen!``) in einer spezifischen Situation nicht moralisch geboten ist, weil sie mit einer anderen, ebenfalls prima facie gültige moralische Norm kollidiert (z.B.: ,,Du sollst unschuldig Verfolgte aus Todesgefahr retten!``). In jeder Situation unbedingt geboten ist allerdings die Orientierung am Moralprinzip selbst. Eine Begründung dieses Prinzips muss diesem kategorischen Verpflichtungssinn des Moralprinzips adäquat sein. Sie kann daher nur dann als gelungen gelten, wenn sich auf ihrer Grundlage dieses Prinzip gegenüber jedermann als unbedingt verbindlich erweisen lässt. Aus der Plausibilität eines Prinzips folgt noch nicht seine Verbindlichkeit: Warum sollte jemand unbedingt dazu verpflichtet sein - und warum sollte jemand sogar durch harte Sanktionsmaßnahmen, z.B. Gefängnisstrafen, dazu gezwungen werden dürfen - das zu tun, was plausibel ist? Bloße Plausibilitätsargumente reichen demnach für eine Begründung des Moralprinzips nicht aus.

Gleichzeitig scheint auf den ersten Blick vieles dagegen zu sprechen, dass eine zureichende Begründung des Moralprinzips möglich ist. Der metaethische Intuitionismus, also die Auffassung, dass es moralische Urteile gebe, deren Wahrheit intuitiv gewiss und einer argumentativen Rechtfertigung oder Kritik nicht mehr bedürftig sei, wird von den Diskursethiker/innen als eine Form des Dogmatismus verworfen. Eine rein 'deduktive' bzw. 'lineare' Ableitung des Moralprinzips aus anderen Prämissen würde die Begründungslast nur auf diese Prämissen verschieben. Aber auch eine Art praktischer 'Bewährung' des Moralprinzips nach dem Muster des Popperschen Falsifikationismus scheint kaum möglich. Denn wenn wir uns, sozusagen versuchsweise, an einem bestimmten Moralprinzip orientieren würden, könnten wir die 'Bewährung' oder das 'Scheitern' dieses Versuchs wiederum nur an moralischen Kriterien bemessen, die ihrerseits gerechtfertigt werden müssten. Prima facie aussichtsreicher scheint die kohärentistische Methode, ein sog. 'Überlegungsgleichgewicht' zwischen der theoretischen Prinzipienformulierung einerseits und den lebensweltlichen Moralurteilen und moralischen Intuitionen andererseits herzustellen. Indes ermöglicht dieses Vorgehen nur eine plausible Rekonstruktion unserer faktischen Moralurteile, kann aber keinen Grund für die Verbindlichkeit dieser Urteile liefern, den sie einer radikalen Skeptikerin oder einem radikalen Skeptiker entgegenhalten könnte. Somit scheint diese Methode zwar für die Begründung moralischer Orientierungen 'unterhalb' des Moralprinzips sinnvoll und unerlässlich. Für das Moralprinzip selbst ist jedoch eine stärkere Begründung zu fordern.

Die Diskursethiker/innen sind nun - insofern ähnlich wie Alan Gewirth - der Ansicht, dass es eine weitere Methode der Prinzipienbegründung gibt. Diese Methode verfährt gewissermaßen indirekt. Sie versucht nicht, das Moralprinzip aus vorausgesetzten Prämissen abzuleiten. Vielmehr wird versucht zu zeigen, dass es selbstwidersprüchlich und daher sinnlos ist, die Verbindlichkeit des Moralprinzips zu bezweifeln oder zu bestreiten. Die gemeinte Methode lässt sich also als eine Form von Sinnkritik verstehen.

Eine Pointe dieser Begründungsmethode liegt darin, dass sie nicht beansprucht, im wörtlichen Sinne 'voraussetzungslos' zu verfahren. Sie beansprucht aber, nur solche Voraussetzungen in Anspruch zu nehmen, die in jeder Situation, in der überhaupt moralische Begründungfragen auftauchen können, immer schon realisiert sein müssen (z.B. dass es freie und rationale Handlungssubjekte gibt, die irgendwelche Zielsetzungen anstreben, dass eine Sprache existiert, in der sie sich verständigen, Behauptungen aufstellen und Argumente austauschen können, etc.). Die diskursethische Sinnkritik setzt bei einer Reflexion auf die Voraussetzungen des argumentativen Diskurses an - wer immer nach der moralischen Gültigkeit seiner Handlungsweise fragt, kann dies ja nur auf diskursive Weise, durch die Prüfung ethischer Argumente tun. Man kann daher von einer diskursreflexiven Begründung sprechen.

In der allgemeinen Begründungsdiskussion der Moralphilosophie ist die diskursreflexiv-sinnkritische Methode heftig umstritten. Auch von den Vertreter/innen der Diskursethik selbst wird sie in recht unterschiedlicher Weise interpretiert. Hier soll zunächst nur das für diese Methode Spezifische durch einen fiktiven Dialog verdeutlicht werden. Da im Rahmen der diskursreflexiven Methode der pragmatische Aspekt von Argumentationen entscheidend ist, scheint die Dialogform für eine einführende Skizze dieser Methode besonders geeignet.

Stellen wir uns ein Gespräch zwischen einer Vertreterin der Diskursethik V und einem Opponenten O vor. O bezweifelt die Gültigkeit des oben vorgeschlagenen diskursethischen Moralprinzips ,,Handle stets so, dass alle Vernunftwesen, zumal die Betroffenen, dem jeweils gewählten Handlungsgrundsatz in einem unbegrenzten argumentativen Diskurs zustimmen könnten!``.

V könnte O dann fragen:

(1) ,,Demnach meinst du, es könne manchmal richtig sein, nach einem Grundsatz zu handeln, dem nicht alle Vernunftwesen in einem unbegrenzten argumentativen Diskurs zustimmen könnten?``

Diese Frage müsste O konsequenterweise bejahen. Dann könnte V fragen:

(2) ,,Demnach müsste es zumindest möglich sein, dass die Behauptung »In Situation S ist es richtig, nach einem Grundsatz zu handeln, dem nicht alle Vernunftwesen in einem unbegrenzten argumentativen Diskurs zustimmen könnten« gültig ist?``

Wieder müsste O bejahen. Nun ließe sich fragen:

(3) ,,Müsste nun aber jene Behauptung ihrerseits, wenn sie gültig wäre, in einem unbegrenzten argumentativen Diskurs die Zustimmung aller finden können?``

An diesem Punkt wird der Dialog für O heikel. Falls O bejaht, könnte V antworten:

(4a) ,,Wie denn nun: Jene Behauptung besagt doch, dass in Situation S nach einem Grundsatz gehandelt werden soll, dem nicht alle Vernunftwesen in einem unbegrenzten argumentativen Diskurs zustimmen könnten. Nun ist aber die Behauptung: »In Situation S soll nach einem Grundsatz G gehandelt werden« selber ein Handlungsgrundsatz für S. Es ergibt sich daher ein Widerspruch: Auf der einen Seite soll der Grundsatz, nach dem in S verfahren werden soll, nicht allgemein zustimmungsfähig sein. Auf der anderen Seite wird aber behauptet, dass in S nach einem Grundsatz verfahren werden soll, der allgemein zustimmungsfähig ist. Du scheinst Dir hier selbst zu widersprechen.``

An dieser Stelle könne O entweder das Scheitern seiner Argumentation eingestehen oder versuchen, auf die Frage (3) nachträglich mit ,,Nein`` zu antworten. V könnte dann weiterfragen:

(4b-1): ,,Du behauptest also, etwas könne gültig sein, und trotzdem in einem unbegrenzten argumentativen Diskurs nicht die Zustimmung aller Vernunftwesen verdienen?``

Dies müsste O wohl bejahen. V könnte fortfahren:

(4b-2): ,,Du meinst demnach, wenn ich recht verstehe, es könnte etwas gültig sein, aber trotzdem nicht für alle zustimmungsfähig, sondern nur für einige?``

Nehmen wir an, O stimme auch hier zu. Dann könnte V einwenden: (4b-3): ,,Gut, nehmen wir an, du hättest recht. Es könnte also etwas gültig sein, aber nur zustimmungsfähig für einige, nicht aber für alle. Müsste es dann aber nicht auch möglich sein, dass das von Dir bestrittene Moralprinzip zwar gültig wäre, aber zustimmungsfähig nur für einige (z.B. für uns) aber nicht für alle (z.B. unter anderem nicht für Dich)? Könntest du also, wenn du recht hättest, noch annehmen, dass dein Zweifel an der Gültigkeit des Moralprinzips irgendeine Bedeutung hat? Könntest du noch den Anspruch erheben, dass wir diesen Zweifel ernst nehmen sollten? Mir scheint, mit dem, was du behauptest, machst du deine eigene These sinnlos. Denn diese These zu diskutieren - oder überhaupt irgendeine These zu diskutieren - ist nur sinnvoll, solange wir unterstellen können, dass in unserem Diskurs das Gültige sich als das für uns alle gleichermaßen Zustimmungsfähige zeigen können müsste. Mit dem, was du tust - unsere Zustimmung erheischen für etwas, was deiner Ansicht nach gültig ist, nämlich deinen Zweifel am Moralprinzip - widersprichst du gleichsam dem, was du behauptest.``

Wir können den Dialog hier abbrechen, wenngleich er sich in verschiedener Weise fortsetzen ließe. Zweifellos könnte O eine ganze Reihe weiterer Einwände erheben. Er könnte z.B. behaupten, es sei gar nicht verständlich, was mit Konzepten wie dem eines 'unbegrenzten argumentativen Diskurses' oder mit der Rede von 'allen Vernunftwesen' gemeint sei - woraufhin seine Kontrahentin zu zeigen hätte, dass solche Konzepte und Redeweisen wiederum nicht sinnvoll, ohne Selbstwiderspruch, zurückgewiesen werden können. Der Witz der diskursreflexiv-sinnkritischen Begründungsmethode sollte aber deutlich geworden sein: Mittels dieser Methode soll denjenigen, die Einwände gegen das Zu-Begründende erheben, ein Selbstwiderspruch nachgewiesen werden. Dabei werden, wie oben in 4b-3, vor allem Widersprüche zwischen dem gesucht, was eine Person explizit sagt (z.B.: ,,Es gibt keine Wahrheit!``), und dem, was sie tut, indem sie dies sagt (z.B.: Eine These aufstellen und Wahrheit für sie beanspruchen). Widersprüchlich ist also das Verhältnis zwischen den expliziten Aussageinhalten und demjenigen, was sozusagen implizit mitbehauptet wird, indem überhaupt irgendeine Behauptung aufgestellt wird. Die Behauptung ,,Es gibt keine Wahrheit!`` ist in diesem Sinne selbstwidersprüchlich, weil sie wie folgt expliziert werden kann: ,,Ich beanspruche hiermit Wahrheit für die Aussage: 'Es gibt keine Wahrheit!'``. Weil ein solcher Selbstwiderspruch die Handlungen betrifft, die man vollzieht, indem man Behauptungen aufstellt, nennt man ihn einen pragmatischen oder (von engl.: to perform) einen performativen Selbstwiderspruch.

Wie bereits erwähnt, sind gegen die sinnkritisch-diskursreflexive Methode verschiedene Einwände erhoben worden. Vorab soll nur auf einen besonders naheligenden Einwand eingegangen werden: Die soeben umrissene Methode setzt einen Skeptiker voraus, der das Zu-Begründende explizit bestreitet, indem er seinerseits eine Behauptung aufstellt (z.B.: ,,Das diskursethische Moralprinzip könnte ungültig sein!``). Durch das Aufstellen dieser Behauptung tritt der Skeptiker in einen Diskurs ein, und insofern er das tut, muss er offenbar gewisse Regeln akzeptieren, die für argumentative Diskurse allgemein gelten. Auf der Grundlage dieser Regeln können ihm dann möglicherweise Selbstwidersprüche nachgewiesen werden. Aber was zwingt den Skeptiker dazu, überhaupt in einen Diskurs einzutreten und irgendwelche Thesen aufzustellen? Er kann das Argumentieren - so könnte man meinen - schließlich auch bleibenlassen. Er kann es sich sogar, nachdem er zu argumentieren begonnen hat, auch wieder anders überlegen und einfach schweigen. Deshalb würde es - dem genannten Einwand zufolge - einen 'intellektualistischen Fehlschluss' bedeuten, die Regeln, die für argumentative Diskurse, z.B. für das Aufstellen von Behauptungen, konstitutiv sind, auch für außerhalb solcher Diskurse gültig zu halten (so Ilting 1982; vorsichtiger: Wellmer 1986, S. 104 ff.). Anders formuliert: Der Skeptiker muss vielleicht, solange er diskutiert, tatsächlich die Gültigkeit bestimmter Prinzipien, z.B. des Moralprinzips, zugestehen. Daraus folgt jedoch noch nicht, dass er diese Prinzipien auch noch jenseits des Diskurses, in der einfachen Handlungspraxis, akzeptieren muss. Es gibt, wie manchmal formuliert wird, keinen automatischen 'Verbindlichkeitstransfer' von der Diskurspraxis auf außerdiskursive Praxisformen.

Von diskursethischer Seite ist auf diesen Einwand auf verschiedene Weise reagiert worden. Die radikalste und wohl auch konsequenteste Entgegnung besagt, dass es eine 'außerdiskursive' Praxis im strikten Sinne gar nicht gibt. Denn erstens kann die Beurteilung einer Handlungsweise als richtig oder falsch, als gelungen oder misslungen, stets nur im Diskurs, durch die diskursive Prüfung von Argumenten, stattfinden. Zweitens ist mit jedem Handeln als Handeln ein Anspruch auf Gelingen verbunden - wir könnten es sonst gar nicht als Handeln, d.h. als ein intentionales Sich-Verhalten und Reagieren auf eine bestimmte Situation - verstehen. Deshalb steht jeder, der intentional handelt, der also in einer konkreten Situation sich mehr oder weniger frei für oder gegen eine bestimmte Handlungsweise entscheidet, in gewisser Weise immer schon in einem Diskurs über die richtige Lösung, weil ihm als einem intentional Handelnden das Gelingen oder Misslingen seiner Handlung nicht gleichgültig sein kann. So schreibt Wolfgang Kuhlmann, ein Schüler Karl-Otto Apels und Vertreter der transzendentalpragmatischen Variante der Diskursethik:


,,Wer immer sich ernsthaft den nächsten (Handlungs-) Schritt überlegt, ihn nicht nur mit sich geschehen läßt, und dies tut, sei es aus der Position des schon von einer Moral Überzeugten, sei es aber auch aus der Position des radikalen Egoisten, der zunächst einmal gar nicht daran denkt, in einen praktischen Diskurs unter Gleichberechtigten einzutreten, der kommt, wenn er nur wirklich wissen will, dabei radikal ist und auch die eigenen Kriterien und Standards nicht dogmatisch sakrosankt setzt, unvermeidlich in diese Form des Diskurses. Und zwar ohne dass er sein Interesse im Sinne irgendwelcher dann zu begründender praktischer Normen ändern müsste, allein aus dem - moralisch zunächst völlig neutralen - Interesse heraus, nun herauszubekommen, welches denn wirklich der beste, der richtige nächste Schritt sein würde`` (Kuhlmann 1992, S. 171 f.).


Dieser 'Diskurs' mag zunächst nur die Form des stillen Nachdenkens einer einzelnen Person haben. Entscheidend ist jedoch, dass zwischen dem 'einsamen Nachdenken' und einem öffentlichen Diskurs gar keine scharfe Trennlinie besteht. Schon das einsame Nachdenken ist sozusagen auf den unbegrenzten Diskurs hin geöffnet, es ist virtuell intersubjektiv: Auch wer nur für sich allein nach der besten Lösung sucht, muss sich ja bemühen, möglichst alle Argumente zu antizipieren, die in einem unbegrenzten Diskurs - von wem auch immer - vorgebracht werden könnten. Und er muss sich bemühen, diese Argumente so zu bewerten, wie sie im unbegrenzten Diskurs bewertet würden. Es wäre irrational, bei der Suche nach der richtigen Lösung nur diejenigen Argumente zu berücksichtigen, die von einer bestimmten Person oder einem bestimmten Personenkreis vorgebracht wurden, gemäß der Maxime: ,,Argument X zählt nicht, weil du es vorgebracht hast!``. Wie Habermas hervorhebt, wäre es performativ selbstwidersprüchlich zu behaupten: ,,Nachdem wir A, B, C ... von der Diskussion ausgeschlossen (bzw. zum Schweigen gebracht bzw. ihnen unsere Interpretationen aufgedrängt) hatten, konnten wir uns endlich davon überzeugen, dass [die Norm] N zu Recht besteht`` (Habermas 1983, S. 101). Falls diese Überlegungen richtig sind, lässt sich der Diskursverweigerungs-Einwand gegen die diskursreflexive Begründung des Moralprinzips als haltlos erweisen (vgl. Øfsti 1994; Habermas selbst verfolgt diesem Einwand gegenüber eine andere Strategie; vgl. Habermas 1983, S. 109 ff.).

1.5 Orientierung am Moralprinzip

Wie aber ist es nun möglich, sich im konkreten Handeln am diskursethischen Moralprinzip zu orientieren? Oder, wie oft - allerdings recht missverständlich - formuliert wird: Wie lässt sich dieses Prinzip ,,anwenden``? Dass aus dem Moralprinzip nicht ,,deduktiv speziellere Konsequenzen abgeleitet werden`` können, ist mit Kuhlmann bereits oben betont worden. Wenn aber aus dem Moralprinzip konkrete Handlungsorientierungen nicht deduktiv abgeleitet werden können, wie soll dies dann geschehen?

Beim Versuch, diese Frage zu beantworten, kann man von einem auf der Hand liegenden Einwand ausgehen, der tatsächlich manchmal gegen die Diskursethik erhoben wird: Faktisch ist es doch so, dass wir niemals wissen können, worauf sich alle Vernunftwesen in einem unbegrenzten und rein argumentativ geführten (d.h. nicht von Wissens- und Machtungleichheiten und von strategischem Diskussionsverhalten verzerrten), einem sozusagen 'idealen' Diskurs einigen würden. Schließlich entsprechen all unsere 'realen' Diskurse niemals vollständig diesen Idealbedingungen. Muss uns mithin nicht für immer verschlossen bleiben, welche Handlungsweise moralisch richtig ist?

Diesem skeptischen Einwand kann man zunächst folgendes entgegnen: Zumindest in Bezug auf einige generelle Handlungsgrundsätze können wir zu sicheren moralischen Urteilen kommen. Dies lässt sich wiederum im Rückgriff auf Kant verdeutlichen. Kant zufolge gilt für manche Maximen, dass sie sich nicht einmal als allgemeine Gesetze denken lassen (Kant 1968a, S. 424). In diskursethischer Terminologie könnte man sagen: Bei einigen Maximen wissen wir von vornherein, dass sie für die Teilnehmer eines argumentativen Diskurses nicht zustimmungsfähig sind. Das trifft beispielsweise auf eine Maxime zu wie: ,,Ich werde die Unwahrheit sagen, wenn es für mich von Vorteil ist!``; ebenso trifft es zu auf die Grundmaxime des ethischen Egoismus: ,,Bei allen Entscheidungen haben meine Interessen stets Vorrang, einfach weil sie meine sind!``. Für beide Maximen gilt nämlich, dass sie jeden möglichen argumentativen Diskurs - und damit die Bedingung jeder rationalen Zustimmung - zerstören würden. Man könnte auch sagen: Diese Maximen können niemals rechtmäßig sein, weil sie sich noch nicht einmal in die Form konsistenter Rechtsansprüche bringen lassen, die jemand ohne Selbstwiderspruch in einem praktischen Diskurs vertreten könnte. (Man stelle sich vor, wie ein entsprechender Versuch erwidert werden könnte: ,,Ich fordere das Recht zu lügen, wann immer es mir passt, und begründe dies durch Argument X!`` - ,,Nun gut: Aber wie können wir denn mit dir gemeinsam prüfen, ob X gültig ist, wenn wir nicht sicher sein können, dass du wirklich meinst, was du sagst? Ist nicht vielleicht sogar schon Deine Forderung gelogen? Und wenn wir Dir das geforderte Recht zuerkennen würden, wie könntest du überhaupt noch überzeugend lügen; wir wüssten ja immer schon, dass du dich nicht um die Wahrheit scherst?`` Oder, auf die Egoismus-Maxime bezogen: ,,Meine Interessen sollen stets Vorrang haben, einfach weil sie meine sind!`` - ,,Nun gut: Aber wenn dies eine gültige Begründung sein sollte, dann müssten wir alle den Vorrang unserer eigenen Interessen fordern einzig deshalb, weil sie unsere sind; damit aber hätten offenbar niemandes Interessen Vorrang. Denk' noch einmal nach, ob Dir nicht wenigstens eine bessere Begründung einfällt!``)

Neben den Maximen, die wir nicht einmal als allgemeine Gesetze denken können, gibt es nach Kant auch solche, die wir, obwohl wir sie als allgemeine Gesetze denken können, nicht als solche wollen können (z.B. die Maxime: ,,Ich werde niemandem helfen, der in Not geraten ist!``). Für die Beurteilung solcher Maximen sind die faktischen Bedürfnisse, Präferenzen und Wertorientierungen der Betroffenen bedeutsam. Nach Ansicht der Diskursethiker/innen hat Kant hier nicht hinlänglich der Tatsache Rechnung getragen, dass die Bedürfnisse, Präferenzen und Wertorientierungen potenziell Betroffener partiell verschieden sind. Um dem Rechnung zu tragen, soll die allgemeine Zustimmungsfähigkeit von Handlungsmaximen prima facie in realen Diskursen geprüft werden, in denen die unterschiedlichen Bedürfnisse, Präferenzen, Perspektiven und Wertorientierungen artikuliert, gemeinsam bewertet und adäquat berücksichtigt werden können. Was aber sind die Kriterien einer solchen Prüfung? Die Diskursethik gibt hier keine weiteren inhaltlichen Kriterien vor. Richtig ist eben diejenige Handlungsorientierung, der wir alle (zumal als Betroffene) zustimmen könnten. Die Gründe, die uns zur Zustimmung bewegen, können unterschiedlich sein; nur müssen auch diese Gründe wiederum aus der Perspektive aller nachvollziehbar sein. Die Diskursethik ist insofern eine recht offene Konzeption normativer Ethik. Sie kann daher auch als eine Art Rahmenethik für die Diskussion ethischer Argumente verstanden werden, welche ihrerseits keineswegs alle spezifisch diskursethisch sein müssen. Es können auch Argumente ausgetragen werden, die in anderen Konzeptionen normativer Ethik entwickelt worden sind. Argumente, wie sie beispielsweise mit Verweis auf die Kohärenz moralischer Urteilssysteme, mit Verweis auf verbreitete moralische Intuitionen oder mit Verweis auf den Beitrag bestimmter Handlungsweisen zum gesellschaftlichen Gesamtnutzen vorgebracht werden, müssen mit der Diskursethik also nicht unvereinbar sein. Im Gegenteil fordert die Diskursethik ausdrücklich dazu auf, alle möglichen (sinnvollen) Argumente vorbehaltlos zu prüfen. Die Diskursethik selbst leistet im Rahmen moralischer Diskurse 'nur' zweierlei: Erstens definiert sie durch den Ausschluss derjenigen Maximen und Argumente, die sich gar nicht auf konsistente Weise diskursiv vertreten (kantisch: nicht als allgemeine Gesetze denken) lassen, eine Minimalmoral, die den Bereich potenziell legitimer moralischer Regelungen von vornherein einschränkt, indem sie beispielsweise alle Formen des ethischen Egoismus und Partikularismus ausschließt sowie alle Maximen, welche die (personalen, sozialen, kognitiven etc.) Bedingungen argumentativer Problemklärung gefährden würden, als prima facie verwerflich kennzeichnet. Zweitens gibt sie durch die Rechtfertigung des Moralprinzips eine verbindliche Begründung dafür, warum wir überhaupt verpflichtet sind, demjenigen Argument zu folgen, das sich im Diskurs als das beste Argument zeigt. Dadurch bringt sie auch diejenigen Plausiblitätsargumente zu ihrem Recht, die andere ethische Konzeptionen für hinreichend halten.

1.6 Orientierung am Moralprinzip in moralischen Konfliktsituationen

Als Beispiele derjenigen Maximen, die auf allgemeine Zustimmungsfähigkeit geprüft werden, sind bislang nur recht allgemeine (im Sinne von: generelle) Maximen angeführt worden. Um der Komplexität konkreter Handlungssituationen Rechnung zu tragen, müssen wir jedoch vielfach spezifischere Maximen bilden. Dies zeigt sich vor allem in Situationen, die man als moralische Konfliktsituationen bezeichnen könnte; Situationen nämlich, in denen mehrere generellere moralische Maximen kollidieren. So gerät z.B. die allgemein zustimmungsfähige Maxime ,,Ich will unschuldig in Not Geratenen helfen!`` mit der ebenfalls allgemein zustimmungsfähigen Maxime ,,Ich will nicht lügen!`` in Konflikt, wenn ich einen unschuldig Verfolgten nur durch eine Lüge aus Lebensgefahr retten kann. Kant war der Ansicht, dass in solchen Fällen diejenigen generellen Maximen, deren Negation nicht einmal als allgemeines Gesetz zu denken ist, stets unbedingt zu befolgen sind, während diejenigen Maximen, deren Negation sich zwar als allgemeines Gesetz denken, aber nicht als allgemeines Gesetz wollen lässt, zurückstehen müssen. Diese Lösung scheint aber schon deshalb inadäquat, weil Maximenkollisionen auch innerhalb der beiden Gruppen von Maximen vorkommen können. Überdies widersprechen ihre Konsequenzen vielfach unseren moralischen Intuitionen: Kant zufolge ist es moralisch unerlaubt, einen prospektiven Mörder zu belügen, um sein Opfer zu retten. Die Diskursethiker/innen haben verschiedene Modelle entwickelt, um solche kontraintuitiven (rigoristischen) Konsequenzen zu vermeiden. Möglicherweise können sie am einfachsten durch folgende Vorgehensweise vermieden werden: Um zu moralischen Handlungsorientierungen zu kommen, die situationsadäquat sind, müssen wir in solchen moralischen Konfliktfällen komplexere Maximen bilden, indem wir die konfligierenden Ausgangsmaximen durch eine situationsspezifische, aber universell formulierte Vorrangsregel verbinden (z.B.: ,,Ich will lügen, wenn dies die einzige Möglichkeit darstellt, das Leben eines unschuldig Verfolgten zu retten!`` vs. ,,Ich will die Wahrheit sagen, auch wenn ich damit das Leben eines unschuldig Verfolgten gefährde!``). Diese komplexeren Maximen sind dann erneut auf allgemeine Zustimmungsfähigkeit zu prüfen. Denkt man an das von Constant und von Kant diskutierte Beispiel (Kant 1968b), so ist klar, dass in diesem Fall ein realer Diskurs unter Einbeziehung des Verfolgers nicht statthaft ist, weil er zum einen den Erfolg der Notlügeoption unmöglich machen würde und weil zum anderen eine ersthafte Diskursteilnahme des Verfolgers prima facie nicht zu erwarten ist, der Verfolger sich also in gewisser Weise selbst aus dem Diskurs ausgegrenzt hat. Dies ist aber kein gültiger Einwand gegen das diskursethische Modell der Orientierung am Moralprinzip. Denn die Pflicht, reale Diskurse zu führen, ist - ebenso wie alle anderen moralischen Verpflichtungen - nur eine Prima-facie-Verpflichtung, die mit anderen Verpflichtungen kollidieren kann. Die Diskursethik fordert nicht die Durchführung realer Diskurse um jeden Preis. Zwar darf niemand grundlos einen praktischen Diskurs über die Richtigkeit der von ihm gewählten Maxime verweigern; es mag aber - auch nach diskursethischer Ansicht - gute Gründe dafür geben, in einer Situation allein für eine Entscheidung einzustehen und das Risiko des moralischen Irrtums, das mit jeder konkreten Handlung in einer konkreten Situation verbunden ist, allein auf sich zu nehmen. Für eine Entscheidung einzustehen heißt freilich, die gültigen Argumente, die in einem unbegrenzten Diskurs geltend gemacht werden könnten, nach bestem Wissen und Gewissen wenigstens gedankenexperimentell zu prüfen.

2 Hauptlinien der Theorieentwicklung

Wie bereits angedeutet, lässt sich die Diskursethik als eine Weiterentwicklung der Ethik Kants verstehen. Diese Weiterentwicklung steht, zumal im Rahmen der von Karl-Otto Apel initiierten Transzendentalpragmatik - im Kontext des umfassenderen philosophischen Projekts einer als 'postmetaphysisch' bezeichneten ,,Transformation`` der kantischen Transzendentalphilosophie.

Hinsichtlich des philosophischen Gesamtsystems bedeutet diese Revision vor allem die Verabschiedung von Kants sogenannter 'Zwei-Reiche-Lehre'. Nach diskursethischer Auffassung war im Rahmen der kantischen Zwei-Reiche-Konzeption - d.h. des Dualismus einer vollständig kausal konstituierten Erscheinungswelt einerseits und einer gänzlich außerhalb der Erscheinungswelt anzunehmenden transzendentalen Subjektivität andererseits - unklar geblieben, wie freie Handlungen - als Ausdruck subjektiver Spontaneität in der Erscheinungswelt - überhaupt möglich sind. Dies hat missliche Konsequenzen für Kants praktische Philosophie, die hier nicht näher erläutert werden können.

Nach diskursethischer Auffassung ist das von Kant gezeichnete dualistische Bild unzutreffend, weil unvollständig. Es blendet einen wesentlichen Bereich der Wirklichkeit aus, nämlich die Wirklichkeit unserer sozialen Welt, in der wir als kommunikativ vergemeinschaftete Mitglieder zusammenleben. Als Mitglieder dieser kommunikativ strukturierten sozialen Welt sprechen wir uns nicht nur selbst die Möglichkeit freier Handlungen zu, sondern rechnen notwendigerweise auch mit der Möglichkeit der Erfahrung freier Handlungen anderer Personen in der Erscheinungswelt. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, wird das von Kant im Hinblick auf seine Möglichkeitsbedingungen befragte Subjekt-Objekt-Verhältnis von den Vertreter/innen der Diskursethik um die Intersubjektivitätsdimension ergänzt zu einem Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnis. Die transzendentalphilosophische Reflexion wird ausgedehnt auf eine soziale (Mit-)Welt, innerhalb derer mehrere Subjekte einander begegnen, kooperieren, sich mit Hilfe von Sprachzeichen - als sinntragenden Bestandteilen der Objektwelt - verständigen und u.a. Ansprüche bezüglich der Objektwelt, aber auch der subjektiven und der sozialen Welt, erheben können (Habermas 1981, S. 114 ff.). Die diskursreflexiv-sinnkritische Begründung des Moralprinzips steht mithin im Kontext einer transzendentalen Reflexion auf die unhintergehbaren Strukturen der sozialen Vergemeinschaftung von Vernunftwesen.

Diese hier nur vage umrissene Erweiterung des philosophischen Problemhorizonts ist freilich keineswegs allein das Verdienst der Diskursethik, sondern Teil einer größeren philosophiegeschichtlichen Bewegung, die als sprachphilosophische (linguistische), pragmatische und hermeneutische Wende bezeichnet worden ist. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext der Beitrag des Semoitikers und Pragmatisten Charles S. Peirce, der eine konsenstheoretische Deutung des Begriffs der Wahrheit als des 'in the long run' Erkennbaren entwickelt hat. Nicht minder wichtig ist die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins, dessen sogenanntes 'Privatsprachenargument' die Unmöglichkeit einer strictu sensu 'einsamen', nicht auf eine Gemeinschaft von Regelinterpreten bezogenen Regelbefolgung aufzeigen sollte (für eine transzendentalpragmatische Variante des Arguments vgl. Kuhlmann 1985, S. 145-180). Erwähnt werden soll schließlich noch die von John L. Austin begründete und von John R. Searle weiterentwickelte Sprachpragmatik, da insbesondere Searles sprechakttheoretische Unterscheidung zwischen dem propositionalen Gehalt (dem begrifflichen Gehalt dessen, was ich sage) der illokutionären Rolle (demjenigen, was ich tue, indem ich es sage) und dem perlukutionären Effekt (dem Ergebnis, das ich durch meine Sprechhandlung bewirke) eine klareres Verständnis der Struktur performativer Widersprüche und damit auch eine klare Fassung der diskursreflexiv-sinnkritischen Methode ermöglicht hat.

Als Geburtsstunde der Diskursethik kann man das Jahr 1967 ansehen. Auf dieses Jahr datiert Karl-Otto Apels Vortrag Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik (Apel 1973). Apel vertritt hier die Auffassung, dass ,,die [...] rationale Argumentation die Geltung universaler ethischer Normen voraussetzt`` (Apel 1973, S. 397). Insbesondere gehöre die Anerkennung der Verbindlichkeit des diskursethischen Moralprinzips (Apel nennt es hier ,,Grundnorm``) zum normativen 'Apriori' der Argumentationssituation, die ihrerseits für ,,alle denkenden Wesen`` unhintergehbar sei. Die Verbindlichkeit des diskursethischen Moralprinzip könne daher von denkenden Wesen prinzipiell nicht ohne Selbstwiderspruch bestritten werden. Diese Auffassung kann bis heute als Grundgedanke der transzendentalpragmatischen Version der Diskursethik gelten:


,,Im Apriori der Argumentation liegt der Anspruch, nicht nur alle »Behauptungen« der Wissenschaft, sondern darüber hinaus alle menschlichen Ansprüche (auch die impliziten Ansprüche von Menschen an Menschen, die in Handlungen und Institutionen enthalten sind) zu rechtfertigen. Wer argumentiert, der anerkennt implizit alle möglichen Ansprüche aller Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft, die durch vernünftige Argumente gerechtfertigt werden können [...], und er verpflichtet sich zugleich, alle eigenen Ansprüche an Andere durch Argumente zu rechtfertigen. Darüber hinaus sind die Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft (und das heißt implizit: alle denkenden Wesen) m. E. auch verpflichtet, alle virtuellen Ansprüche aller virtuellen Mitglieder zu berücksichtigen - u. d. h. alle menschlichen »Bedürfnisse«, sofern sie Ansprüche an die Mitmenschen stellen könnten. Menschliche »Bedürfnisse« sind als interpersonal kommunizierbare »Ansprüche« ethisch relevant; sie sind anzuerkennen, sofern sie durch Argumente interpersonal gerechtfertigt werden können. [...] Der Sinn der moralischen Argumentation könnte geradezu in dem - nicht eben neuen - Prinzip ausgedrückt werden, dass alle Bedürfnisse von Menschen - als virtuelle Ansprüche - zum Anliegen der Kommunikationsgemeinschaft zu machen sind, die sich auf dem Wege der Argumentation mit den Bedürfnissen aller übrigen in Einklang bringen lassen. Damit scheint mir das Grundprinzip einer Ethik der Kommunikation angedeutet zu sein, das zugleich die - eingangs vermißte - Grundlage einer Ethik der demokratischen Willensbildung durch Übereinkunft (»Konvention«) darstellt. Die angedeutete Grundnorm gewinnt ihre Verbindlichkeit nicht etwa erst durch die faktische Anerkennung derer, die eine Übereinkunft treffen (»Vertragsmodell«), sondern sie verpflichtet alle, die durch den Sozialisationsprozeß »kommunikative Kompetenz« erworben haben, in jeder Angelegenheit, welche die Interessen (die virtuellen Ansprüche) Anderer berührt, eine Übereinkunft zwecks solidarischer Willensbildung anzustreben; und nur diese Grundnorm - und nicht etwa das Faktum einer bestimmten Übereinkunft - sichert den einzelnen normgerechten Übereinkünften moralische Verbindlichkeit`` (Apel 1973, S. 424 ff.).


Auch die Frage, wie die Orientierung am Moralprinzip unter Realbedingungen erfolgen kann, sucht Apel in besagtem Vortrag zu beantworten. Seines Erachtens lässt sich durch die Reflexion auf die Argumentationssituation nicht nur das diskursethische Moralprinzip selbst begründen; es lassen sich auch gewisse praktische Zielorientierungen als verbindlich erweisen. Aus der Tatsache, dass wir als Argumentierende stets einerseits gewisse Idealisierungen hinsichtlich der Argumentationssituation vornehmen müssen (dass wir z.B. die prinzipielle Gleichberechtigung aller Argumentationspartner, die Zwanglosigkeit und Wahrhaftigkeit aller Äußerungen unterstellen müssen), andererseits aber niemals vollständig aus unserer realen Argumentationssituation heraustreten können (in der jene Idealbedingungen stets nur mehr oder weniger gegeben sind), folgert Apel, dass wir sowohl eine Strategie zur Erhaltung der realen Kommunikationsgemeinschaft ('Überlebensstrategie') als auch eine Strategie zur Verbesserung der Kommunikationsbedingungen in Richtung der argumentationskonstitutiven Idealisierungen ('Emanzipationsstrategie') verfolgen müssten (Apel 1973, S. 432).

Nach Apels 'Apriori'-Aufsatz ist die diskursethische Diskussion v.a. durch Habermas' 1983 erschienene Aufsatzsammlung Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln angeregt worden. Den Versuch einer unmittelbaren diskursreflexiv-sinnkritischen Begründung des Moralprinzips und gar spezifischer 'moralischer Strategien', wie ihn Apel in Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft unternommen hatte, hält Habermas für problematisch. Ein ,,Transfer`` von den ,,pragmatischen Voraussetzungen der Argumentation`` zu ethischen Normen lasse sich ,,nicht in der Weise nachweisen, dass man [...] den Argumentationsvoraussetzungen unmittelbar ethische Grundnormen`` entnehme (Habermas 1983, S. 96). An die Stelle eines unmittelbaren diskursreflexiven Aufweises der Verbindlichkeit des Moralprinzips setzt Habermas die Ableitung dieses Prinzips aus einer Teilmenge der sogenannten 'Diskursregeln', deren Formulierung er von Robert Alexy übernimmt:


,,(3.1) Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen.

(3.2) a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren.

b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen.

c. Jeder dar seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern.

(3.3) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen.``

(Habermas 1983, S. 99 gemäß Alexy 1978, S. 40f.). Die Diskursregeln ihrerseits sollen sich diskursreflexiv begründen lassen, durch den Nachweis also, dass ihre Bestreitung einen performativen Selbstwiderspruch impliziert (Habermas 1983, S. 100). Aus den genannten Diskursregeln lässt sich dann, Habermas zufolge, ,,in Verbindung mit einem schwachen, d.h. nicht präjudizierenden Begriff von Normenrechtfertigung`` das sogenannte Universalisierungsprinzip 'U' ableiten (Habermas 1983, S. 102 f.; vgl. hierzu Ott 1996, S. 12-50). Dem Universalisierungsprinzip 'U' zufolge ist eine Handlungsnorm genau dann gültig, ,,wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können``. Das Universalisierungsprinzip 'U' stellt nach Habermas das diskursethische Moralprinzip dar. Habermas stellt dem Universalisierungsprinzip 'U' den sogenannten Diskursgrundsatz 'D' zur Seite, der ,,die Grundvorstellung`` der Diskursethik noch einmal in Form eines ,,sparsamen Grundsatz[es]`` ausdrückt (Habermas 1983, S. 103).

Die von Habermas vertretene universalpragmatische Variante der Diskursethik unterscheidet sich von der von Apel vertretenen transzendentalpragmatischen Version nicht nur hinsichtlich der Frage, wie das Moralprinzip zu begründen ist, sondern auch hinsichtlich der Frage, wie die Orientierung an diesem Prinzip erfolgen soll.

Wie schon erwähnt, hatte Apel in Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft dem 'dialektischen Apriori' von idealer und realer Kommunikationssituation durch die Einführung zweier 'moralischer Strategien' Rechnung tragen wollen. Soweit unsere reale Handlungssituation von den 'kontrafaktisch' antizipierten Idealbedingungen der Argumentationspraxis abweiche, laufe eine alleinige Orientierung an der diskursethischen 'Grundnorm' auf einen moralischen Rigorismus hinaus. Es bedürfe daher einer verantwortungsethischen Vermittlung der diskursethischen 'Grundnorm' mit der Bewahrungs- und Ergänzungsstrategie.

Habermas ging hingegen in seinem 1983 erschienenen Buch davon aus, dass die ausschließliche Orientierung an dem als Moralprinzip vorgeschlagenen Universalisierungsgrundsatz 'U' verantwortungsethisch rechtfertigbar sei, da die Berücksichtigung der 'Folgen und Nebenwirkungen' bereits in die Formulierung von 'U' Eingang gefunden habe. Allerdings war Habermas dennoch der Ansicht, dass die Applikation der 'abstrakten', gemäß 'U' begründbaren Moralnormen auf 'konkrete' geschichtliche Handlungssituationen Probleme mit sich bringe - wenngleich nicht völlig klar wurde, inwiefern Moralnormen, die gemäß dem Universalisierungsprinzip 'U' als gültig ausgewiesen werden können, tatsächlich als 'abstrakt' charakterisiert werden müssen (vgl. Habermas 1983, S. 114ff.). Nachdem Habermas' frühere Arbeiten auf die Frage, wie diese 'Abstraktions-'Probleme bewältigt werden müssten, nur tentative Antworten gaben (Habermas 1991, S. 24, 29, 74 ff.), vertrat er später mit Klaus Günther die Auffassung, dass die Lösung in einer Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen zu sehen sei, in denen je verschiedene Perspektiven praktischer Vernunft verkörpert seien (Günther 1988; u.v.a.: Habermas 1991, u.a. 137 ff.; Habermas 1999, S. 58, 61, 255, 281 f.). In Begründungsdiskursen solle nur die Prima-facie-Gültigkeit moralischer Normen geprüft werden. In Anwendungsdiskursen sei hingegen zu prüfen, welche der in Begründungsdiskursen zu rechtfertigenden Normkandidaten vor dem Hintergrund aller Merkmale der konkreten Anwendungssituation angemessen sei. Albrecht Wellmer, Robert Alexy, Matthias Kettner und andere haben jedoch gute Gründe dafür vorgebracht, dass sich ,,Begründungs- und Anwendungsdiskurs`` ,,nicht kategorial voneinander trennen`` lassen (Wellmer 1986, S. 134; vgl. Kettner 1993; Alexy 1995).

Apel wiederum wandte sich nicht gegen die von Günther und Habermas vorgeschlagene 'vertikale Differenzierung' moralischer Diskurse in Begründungs- und Anwendungsdiskurse. Als Lösung für das von ihm diagnostizierte Rigorismus-Problem hielt er sie aber für unzureichend, da beide Teildiskurse ausschließlich an 'U' orientiert bleiben. Damit bleibe jedoch ein Problem ungelöst, das aus der in 'U' enthaltenen Unterstellung allgemeiner Normbefolgung resultiere. Da diese Unterstellung kontrafaktischen Charakter hat - d.h.: da in Wirklichkeit nicht alle Moralsubjekte diejenigen Normen befolgen, die für alle akzeptabel wären, wenn sie von allen befolgt würden - kann laut Apel die Befolgung einer Norm, die gemäß 'U' als gültig ausgezeichnet wird, in realen Handlungssituationen unverantwortlich oder unzumutbar sein (Apel 1988, u.a. S. 127 f. vgl. auch Wellmer 1986, S. 65). Um diesem Problem zu begegnen, interpretiert Apel die beiden oben erwähnten 'moralischen Strategien' in den Beiträgen des 1988 erschienenen Buchs Diskurs und Verantwortung als Teilprinzipien eines sogenannten 'Ergänzungsprinzips' 'E'. Als 'verantwortungsethische' und 'teleologische' Ergänzung zu dem von Habermas übernommenen (aber in ein Handlungsprinzip transformierten) Universalisierungsprinzip 'U' soll das Ergänzungsprinzip 'E' allen Moraladressaten die Mitarbeit an der Erhaltung bzw. der fortschreitenden Realisierung von Bedingungen auferlegen, unter denen die Befolgung der gemäß 'U' gültigen Normen allererst zumutbar bzw. verantwortbar wäre. Die Einführung dieses zusätzlichen Prinzips lässt allerdings unklar werden, welches der verschiedenen Prinzipien ('D', 'U' oder 'E') als eigentliches Moralprinzip anzusehen ist, und anhand welcher Kriterien Moralsubjekte in konkreten Handlungssituationen entscheiden können, an welchem der drei Prinzipien sie sich zu orientieren haben (vgl. u.v.a. Böhler 1992; Habermas 1999, S. 60 ff.; Schönrich 1994, S. 95 ff.; Ulrich 1997, S. 89 ff.). In seinen jüngsten Arbeiten hat Apel nun klargestellt, dass allein das 'primordiale' Diskursprinzip als Moralprinzip zu verstehen sei. Nicht dieses, sondern nur das theoriearchtiektonisch 'unterhalb' des primordialen Moralprinzips angesiedelte Universalisierungsprinzip bedürfe der verantwortungsethischen Ergänzung (Apel 1998, S. 799). Die Probleme der Apelschen 'Ergänzungs-'konzeption sind damit allerdings nicht vollständig gelöst.

Apels Einschätzung, dass eine ausschließliche Orientierung an 'U' unter realen Bedingungen unzumutbar sein könne, hat sich Habermas in den 1991 erschienenen Erläuterungen zur Diskursethik (Habermas 1991) zu eigen gemacht. Neben das in Begründungsdiskursen zu prüfende Kriterium der Gültigkeit und das in Anwendungsdiskursen zu operationalisierende Kriterium der Angemessenheit moralischer Normen tritt nun noch das Kriterium der Zumutbarkeit ihrer Befolgung. Anders als Apel hält es Habermas allerdings für unmöglich, auch noch die Mitarbeit an der Herstellung der 'Anwendungsbedingungen' der Diskursethik zum Inhalt einer diskursethisch begründeten moralischen Verpflichtung zu machen. Für ihn umschreibt der Bereich der Zumutbarkeit der Orientierung am Universalisierungsprinzip 'U' zugleich den Bereich der Zumutbarkeit der Moral überhaupt (Habermas 1991, S. 198, Habermas 1992, S. 149). Daher delegiert er die Aufgabe, die allgemeine Befolgung gültiger Moralnormen sicherzustellen und damit zugleich ihre Zumutbarkeit zu gewährleisten, an das Rechtssystem (vgl. Habermas 1992). Das Diskursprinzip 'D' wird nun als ethisch neutrales Prinzip verstanden, aus dem sich sowohl das Moralprinzip 'U', als auch das Demokratie- bzw. Rechtsprinzip als auf gleicher Ebene liegende Prinzipien herleiten sollen. Apel hat diese 'Verzweigungskonzeption' als eine ,,Auflösung der Diskursethik`` kritisiert (Apel 1998, S. 727ff.); ein ,,moralischer Grund für Recht überhaupt`` (Habermas 1991, S. 199) lasse sich in diesem Rahmen nicht mehr gewinnen. Dieses Problem scheint tatsächlich auch Habermas selbst zu beunruhigen (Habermas 1999, S. 60ff.).

Sowohl Apel als auch Habermas scheinen zu übersehen, dass die Tatsache der unzureichenden Befolgung einer moralischen Norm als solche weder einen hinreichenden noch einen notwendigen Grund der Unzumutbarkeit dieser Norm darstellt (vgl. Gottschalk 2000; Ulrich 1997). Verstöße gegen 'eigentlich' moralisch gültige Normen führen nur dann zu deren Unzumutbarkeit, wenn daraus moralische Härten resultieren, die ihrerseits jederzeit zwanglos als Normenkollisionen rekonstruiert werden können. Es stellt sich daher die Frage, ob nicht sowohl dem 'Angemessenheits-' als auch dem 'Zumutbarkeitsproblem' am besten dadurch Rechnung getragen werden kann, dass die Begründung situationsspezifischer Handlungsorientierungen als ein prinzipiell unabgeschlossener Prozess der Begründung hinreichend komplexer bzw. spezifischer Maximen verstanden wird, die bei der Anwendung auf 'neue' Situationen stets nur als Prima-facie-Orientierungen, niemals hingegen als uneingeschränkt 'befolgungsgültige' Normen dienen (Werner 2003).

Neben Apel und Habermas, den bekannten Repräsentanten der Diskursethik, haben zu deren Weiterentwicklung auch Philosophen beigetragen, die sich später mehr oder weniger deutlich von der Diskursethik abgesetzt haben - beispielsweise Albrecht Wellmer, Ernst Tugendhat und Friedrich Kambartel. Gegenwärtige Vertreter/innen der Diskursethik sind u.v.a. Robert Alexy, Dietrich Böhler, Seyla Benhabib, Edmund Braun, Peter Brune, Hauke Brunkhorst, Holger Burckhart, Adela Cortina, Andreas Dorschel, Rainer Forst, Niels Gottschalk-Mazouz, Horst Gronke, Klaus Günther, Heiner Hastedt, Matthias Kettner, Wolfgang Kuhlmann, Marcel Niquet, Audun Øfsti, Konrad Ott, William Rehg, Hans Schelkshorn, Gunnar Skirbekk, Ulrich Thielemann, Peter Ulrich und Lutz Wingert. Die von ihnen vertretenen Varianten der Diskursethik weichen in vielen Punkten mehr oder weniger deutlich voneinander ab. Nicht allen Abweichungen liegen allerdings wirkliche Dissense zugrunde, da die Diskursethik, wie bereits angedeutet, als eine Art 'Rahmenethik' verstanden werden muss, die innerhalb des diskursreflexiv begründbaren normativen Rahmens recht verschiedenartigen ethischen Argumenten Raum bietet. Daneben gibt es Versuche, diskursethische bzw. diskurstheoretische Denkmuster auch für andere Bereiche, v.a. die Rechtsphilosophie und die politische Philosophie nutzbar zu machen (u.a. Alexy, Günther, Habermas), sie in einem anderen Theorierahmen 'aufzuheben' (v.a. neohegelianisch: Vittorio Hösle), oder mit anderen Ethiken, z.B. theologischen Ethiken, zu vermitteln (u.a. Edmund Arens, Andreas Lob-Hüdepohl).

3 Relevanz für Fragen der bereichsspezifischen Ethik

Der Schwerpunkt der Argumentationsbemühungen der Vertreter/innen der Diskursethik lag zunächst auf der Begründung des Moralprinzips und auf der Beschäftigung mit der allgemeinen Problemen der Orientierung an diesem Prinzip. Fragen der sogenannten 'angewandten' - besser gesagt: bereichsspezifischen - Ethik spielten zunächst eine untergeordnete Rolle. Die in diesem Felde zunächst geübte Abstinenz dürfte erstens auf die unfruchtbaren Diskussionen über allgemeine Probleme der Orientierung am diskursethischen Moralprinzip zurückzuführen sein - also die oben skizzierte Kontroverse über Apels 'verantwortungsethisches Ergänzungsprinzip', Günthers und Habermas' 'Anwendungsdiskurse' und Habermas' 'Zumutbarkeitsvorbehalt'. Eine Rolle spielt zweitens ein gewisses Misstrauen gegenüber der Institutionalisierung professioneller Expertendiskurse zu bereichsethischen Fragen: Gemessen an dem partizipatorischen Ideal einer Einbeziehung aller Betroffenen in praktische Diskurse, muss die Institutionalisierung ethischen Expertentums als prinzipiell ambivalent erscheinen. Drittens führt der spezifische Charakter der Diskursethik als einer prozeduralen 'Rahmenethik' dazu, dass das diskursethische Moralprinzip - anders als vielleicht ein utilitaristisches Maximierungskalkül - nicht ohne komplexe Vermittlungsschritte auf bestimmte Situationen oder Situationstypen 'angewandt' werden kann, und dass Diskursethiker/innen, die sich mit bereichsspezifischen Fragen beschäftigen, hierbei recht unterschiedliche Argumente berücksichtigen können.

Gleichwohl mehren sich seit Mitte der achtziger Jahre diskursethische Beiträge zu Fragen der bereichsspezifischen Ethik (u.a. Apel/Kettner 1992; Kettner 2000). Besonders hervorzuheben sind dabei die bedeutenden diskursethischen Beiträge zur Wirtschaftsethik (Ulrich 1997), zur Wissenschafts- und Technikethik (Ott 1997, Hastedt 1991), zur Umweltethik (Böhler 1993, Ott 1996, S. 86-128). Eher sporadisch bleiben demgegenüber pointiert diskursetische Beiträge zur Bio- und Medizinethik (Kuhlmann 1996). Im Zuge der intensivierten Debatte über bioethische Fragen mehren sich auch in diesem Feld die Beiträge aus diskursetischer Perspektive (Habermas 2001).

4 Literatur

4.1 Standardwerke

Alexy, Robert: ,,Eine Theorie des praktischen Diskurses.`` In: Oelmüller, Willi (Hg.): Transzendentalphilosophische Normbegründung. Paderborn 1978, S. 122-158.

Apel, Karl-Otto: ,,Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik: Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft.`` In: Ders.: Transformation der Philosophie. Frankfurt a. M. 1973, Bd. 2, S. 358-435 (Orig.: 1972).

- : Diskurs und Verantwortung: Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M. 1988.

- : Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998.

Apel, Karl-Otto/Kettner, Matthias (Hg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1992.

Günther, Klaus: Der Sinn für Angemessenheit: Anwendungsdiskurse in Moral und Recht. Frankfurt a. M. 1988.

Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1981.

- : Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1983.

- : Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. 1991.

- : Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992.

Kuhlmann, Wolfgang: Reflexive Letztbegründung: Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik. Freiburg i. Br.; München 1985.

Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog: Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik. Frankfurt a. M. 1986.

4.2 Weitere Literatur

Alexy, Robert: ,,Normenbegründung und Normanwendung.`` In: Ders.: Recht, Vernunft, Diskurs: Studien zur Rechtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1995, S. 52-70 (Orig.: 1993).

Böhler, Dietrich: ,,Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung.`` In: Apel, Karl-Otto/Kettner, Matthias (Hg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1992, S. 201-231.

- : ,,Verstehen, Konstruieren, Verantworten: In dubio contra projectum.`` In: Schnädelbach, Herbert/Keil, Geert (Hg.): Philosophie der Gegenwart - Gegenwart der Philosophie. Hamburg 1993, S. 235 ff.

Böhler, Dietrich/Gronke, Horst: ,,Diskurs.`` In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen 1994, Bd. 2, S. 764-819.

Gottschalk, Niels: Diskursethik: Theorien, Entwicklungen, Perspektiven. Berlin 2000.

Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung: Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1999.

- : Die Zukunft der menschlichen Natur: Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M. 2001.

Hastedt, Heiner: Aufklärung und Technik: Grundprobleme einer Ethik der Technik. Frankfurt a. M. 1991.

Ilting, Karl-Heinz: ,,Der Geltungsgrund moralischer Normen.`` In: Kuhlmann, Wolfgang/Böhler, Dietrich (Hg.): Kommunikation und Reflexion: Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M. 1982, S. 612-648.

Kant, Immanuel: ,,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.`` In: Ders.: Werke: Akademie Textausgabe. Berlin 1968a, Bd. 4, S. 385-464 (Orig.: 1785).

- : ,,Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen.`` In: Ders.: Werke: Akademie Textausgabe. Berlin 1968b, Bd. 8, S. 421-430 (Orig.: 1797).

Kettner, Matthias: ,,Warum es Anwendungsfragen, aber keine 'Anwendungsdiskurse' gibt.`` In: Jahrbuch für Recht und Ethik 1 (1993), S. 365-378.

Kettner, Matthias (Hg.): Angewandte Ethik als Politikum. Frankfurt a. M. 2000.

Kuhlmann, Wolfgang: ,,Zur Begründung der Diskursethik.`` In: Ders.: Sprachphilosophie - Hermeneutik - Ethik: Studien zur Transzendentalpragmatik. Würzburg 1992, S. 164-175 (Orig.: 1987).

Kuhlmann, Wolfgang: ,,Diskursethik und die neuere Medizin: Anwendungsprobleme der Ethik bei wissenschaftlichen Innovationen.`` In: Beckmann, Jan P. (Hg.): Fragen und Probleme einer Medizinischen Ethik. Berlin; New York 1996, S. 94-117.

Øfsti, Audun: ,,Ist diskursive Vernunft nur eine Sonderpraxis? Betrachtungen zum 'Verbindlichkeitstransfer' von transzendental-reflexiv (letzt)begründeten Normen.`` In: Ders.: Abwandlungen: Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie. Würzburg 1994, S. 139-157.

Ott, Konrad: Vom Begründen zum Handeln: Aufsätze zur angewandten Ethik. Tübingen 1996.

- : Ipso facto: Zur ethischen Begründung normativer Implikate wissenschaftlicher Praxis. Frankfurt a. M. 1997.

Schönrich, Gerhard: Bei Gelegenheit Diskurs: Von den Grenzen der Diskursethik und dem Preis der Letztbegründung. Frankfurt a. M. 1994.

Ulrich, Peter: Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern; Stuttgart; Wien 1997.

Werner, Micha H.: Diskursethik als Maximenethik. Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung. Würzburg 2003.




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