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Werner, Micha H. (1997):

Anwendungsprobleme der Diskursethik am Beispiel der Euthanasie-Diskussion.

Überarbeitete Fassung. Originalversion erschienen in: Zwart, Hub (Hg.) (1997): Euthanasie und Ethik: Methodologische Überlegungen. Nijmegen: Werkdocument 1 des Center for Ethics Catholic University Nijmegen (CEKUN), S. 64-76.








Einleitung

Mein Vortrag beschäftigt sich in der Hauptsache mit allgemeinen Problemen einer 'Anwendung' der Diskursethik und enthält nur gegen Schluß eine Bezugnahme auf die Euthanasie-Diskussion. Ich werde zunächst gegen eine Kritik von Angelika Krebs deutlich zu machen suchen, wie innerhalb der Diskursethik meines Erachtens das Inklusionsproblem, also die Frage, wer zum Adressatenkreis der Ethik gehört, gelöst werden sollte. Dann werde ich mich mit verschiedenen Konzeptionen der allgemeinen Anwendung der Diskursethik auseinandersetzen und mit einigen sporadischen Bemerkungen zur niederländischen Regulierung der "Medical Decisions to End Life" (MDELs) schließen.


Zum Inklusionsproblem

Das Inklusionsproblem gehört eigentlich nicht zum 'Anwendungsteil' einer Ethik. Schließlich handelt es sich bei der Frage, wer oder was überhaupt moralische Beachtung oder Anerkennung verdient, um eine der grundlegendsten ethischen Fragen schlechthin. Es ist zweifellos eine Frage, unabhängig von der das Begründungsproblem nicht nur nicht gelöst, sondern vielmehr gar nicht erst aufgeworfen werden kann. Die Antwort auf die Frage "Wie kann ich (oder wie können wir) Pflichten gegenüber x begründen" oder, mit anderem Akzent formuliert "Wie können wir moralische Verantwortlichkeit für x begründen" - die Antwort auf solche fundamentalen Begründungsfragen ist sozusagen 'gleichursprünglich' mit der Antwort auf die Frage, wer oder was zu 'x' zu zählen ist. Ungeachtet seines prinzipiellen und eng mit dem Begründungsproblem verflochtenen Charakters ist das Inklusionsproblem natürlich in einigen Feldern 'angewandter Ethik' - ich selbst spreche aus prinzipiellen Erwägungen heraus lieber von 'bereichsspezifischer Ethik' - von besonderer Relevanz. Das gilt natürlich in erster Linie für die Abtreibungsfrage, es gilt natürlich auch für die Diskussion über (MDELs). Hier möchte ich allerdings auch gleich eine Kautele einführen, die der Diskursethiker Matthias Kettner jüngst geltend gemacht hat1: Als Moralphilosoph (oder Moralphilosophin) der (oder die) sich für Fragen bereichsspezifischer (oder 'angewandter') Ethik interessiert, sollte man immer bedenken, daß die Relevanz, die einer bestimmten Fragestellung in prinzipieller, theoretischer Perspektive, also sozusagen in Hinblick auf die Grundprobleme der Ethik überhaupt zukommt, nicht zwangsläufig der Relevanz entspricht, die der gleichen Fragestellung im praktischen Kontext zukommt, wo es um die Lösung eines konkreten Handlungsproblems geht. Damit will ich sagen: Philosophinnen und Philosophen neigen von Haus aus dazu, von der Beantwortung einiger weniger Grundsatzfragen auch schon die Lösung spezifischer praktischer Probleme zu erwarten; sie neigen dazu, die Komplexität der Situation, die Vielfalt der relevanten Faktoren zu unterschätzen. Dieser Tendenz nach Kräften zu widerstehen (ohne in eine prinzipienlose 'Pragmatik' oder 'Kasuistik' hineinzugeraten) ist vielleicht eine der Haupttugenden, über die an 'bereichsspezifischen' ethischen Problemen interessierte verfügen sollten. Denn das Abtreibungsproblem beispielsweise wäre auch dann längst noch nicht gelöst, wenn es gelänge, ein eindeutiges Kriterium dafür anzugeben, ab welchem Zeitpunkt ein menschlicher Fötus als eine Person, als ein gleichberechtigtes Moralsubjekt angesehen werden muß.

Ein allgemein verbreitetes Vorurteil besagt nun, daß die Diskursethik besonders schlecht in der Lage sei, das Inklusionsproblem in einer Weise zu lösen, die einen überzeugenden Umgang mit medizinethischen Problemen ermöglichen würde. Die Kritik der Kambartel-Schülerin Angelika Krebs möchte ich hier nur als eine von vielen Stimmen zu Wort kommen lassen: Krebs nimmt an, daß die Diskursethik Verpflichtungen ausschließlich gegenüber solchen Wesen begründen könne, die aktuell argumentationsfähig sind. "[D]ie Diskursethik", könne daher "den traditionell weiblichen Bereich der Sorge für nichtpersonale Menschen nicht richtig erfassen."2 Die Sorge für "Kleinkinder, Föten, gewisse Schwerstgeistigbehinderte, gewisse senile Alte" könne diskursethisch nicht begründet werden. "Wenn Habermas recht hätte und Moral nur auf den Schutz personaler Integrität ginge", so meint Krebs "dann wäre die Sorge für das leibliche Wohl dieser sogenannten »human marginal cases« keine Sache der Moral. Man könnte mit ihnen tun und lassen, was man will. Man könnte an ihnen zum Beispiel schmerzhafte medizinische Versuche vornehmen oder sie gar, da sie schließlich oft eine Last darstellen, umbringen. Vorausgesetzt, kein Mensch mit personaler Integrität nähme Schaden, wäre all dies moralisch in Ordnung."3 Man müsse zum Beispiel "nur dafür sorgen, daß aus einem Kleinkind keine Person wird, indem man es vorher umbringt, und dann dürfte man es quälen, so viel man will. Es gäbe dann ja niemanden, der im nachhinein dieses Verhalten verurteilen könnte."4

Diese Einschätzung der Diskursethik basiert aber auf einem Mißverständnis. Meine These ist, daß die Diskursethik jedenfalls keine größeren Schwierigkeiten hat, das Inklusionsproblem auf akzeptable Weise zu lösen, als dies im Rahmen anderer ethischer Konzeptionen auch der Fall ist. Vielleicht kann sie darüber hinaus sogar noch das eine oder andere fruchtbare Argument in die Debatte einbringen, das zur Lösung des Problems beitragen kann.

Zwar muß man eindeutig folgendes konzedieren: Eine schlechthin unbestreitbare ja nicht einmal sinnvoll bezweifelbare Begründung einer Anerkennung als moralisches Co-Subjekt gelingt der Diskursethik ausschließlich solchen Wesen gegenüber, die argumentieren könnten. Zu fragen ist aber erstens, wie in der Formulierung 'Wesen, die argumentieren könnten' das Potentialitätswörtchen 'könnten' verstanden werden muß und zweitens, welche Relevanz einer Eingrenzung des Bereichs möglicher 'Letztbegründung' im Rahmen der Diskursethik überhaupt zukommt.

Die erste Frage wird auch unter den Vertreterinnen und Vertretern der Diskursethik unterschiedlich beantwortet. Ich persönlich meine, wir können die Anerkennung all derjenigen Wesen als gleichberechtigte Moralsubjekte unwidersprechlich begründen, bei denen wir Grund für die Annahme haben, daß sie - jetzt oder später - wirklich argumentieren können. Dies gilt beispielsweise für Kleinkinder oder Komatöse, bei denen eine Erweckung aus dem Koma nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Solchen zukünftig potentiell argumentationsfähigen Wesen die moralische Anerkennung zu versagen würde einen pragmatischen Selbstwiderspruch implizieren, denn da wir zwingend verpflichtet sind, uns um die universelle argumentative Akzeptabilität unserer Äußerungen zu bemühen, müssen wir gegebenenfalls antizipativ und advokatorisch auch diejenigen Argumente in unsere Entscheidung einbeziehen, die von anderen zukünftig vorgebracht werden könnten. Keinesfalls dürfen wir Argumente deswegen unberücksichtigt lassen, weil wir die Möglichkeit haben zu verhindern, daß sie geäußert werden (sonst wäre, nebenbei bemerkt, auch die Ausrottung der Menschheit moralisch nicht zu kritisieren). Die Einbeziehung von Personen, die zwar nicht jetzt, aber vielleicht zukünftig interaktionsfähig sind, stellt vielleicht für den Kontraktualismus eine ernste Schwierigkeit dar; für die Diskursethik hingegen ist sie unproblematisch.

Aber wie steht es mit Hirntoten, mit Patienten, die am apallischem Syndrom leiden oder zum Beispiel auch mit Schwerstbehinderten, denen die kognitiven Fähigkeiten, die zur Argumentationsteilnahme erforderlich sind, für immer fehlen werden? Der Berliner Philosoph Dietrich Böhler ist der Ansicht, daß wir auch ihnen gegenüber moralische Achtung letztbegründen können. Er dehnt dabei die Bedeutung des 'könnten' in der Formulierung 'Wesen, die argumentieren könnten' noch weiter aus, als ich das eben getan habe. Unter Berufung auf den norwegischen Transzendentalpragmatiker Gunnar Skirbekk (der allerdings einen vorsichtigeren Gebrauch von der Argumentation macht5) argumentiert er dafür, daß dieses 'könnten' im Sinne einer 'Potentialität zweiter Ordnung' verstanden werden müsse.6 Dabei wird das 'könnte' nicht mehr im Sinne einer 'realen Möglichkeit' (Bloch7), sondern im Sinne einer bloß kontrafaktischen Denkmöglichkeit interpretiert. An die Stelle der Frage ob eine Möglichkeit besteht, daß x jetzt oder später tatsächlich argumentieren kann - der Frage nach der Potentialität erster Ordnung - tritt jetzt die Frage, ob x hätte argumentieren können, wenn bestimmte hindernde Umstände nicht eingetreten wären (wenn x zum Beispiel nicht eine Unterversorgung mit Sauerstoff erlitten hätte). Da man eine solche 'Argumentationsfähgkeitspotentialität zweiter Ordnung' allen Menschen zuschreiben kann, ließe sich - falls Böhler recht hätte - diskursethisch ein traditioneller Anthropozentrismus rechtfertigen.

Mir persönlich scheint diese Argumentation allerdings nicht plausibel. Zwei sicher noch diskussionsbedürftige Argumente möchte ich skizzieren: Erstens kann man die transzendentalpragmatische Nötigung, allen im Sinne der Potentialität erster Ordnung argumentationsfähigen Wesen moralische Anerkennung entgegenzubringen, als eine direkte und zwingend notwendige Konsequenz aus dem Verbot interpretieren, bei der Wahl einer Handlungsweise sinnvolle Argumente bewußt zu ignorieren oder gar ihre Vorbringung zu verhindern. Denn genau das tun wir ja unvermeidlich, wenn wir einen gesunden Säugling töten. Durch die Tötung eines prinzipiell argumentationsunfähigen Wesens bringen wir uns hingegen nicht notwendig in Widerspruch zu diesem Verbot, denn wir tun ja nichts, wodurch wir die Vorbringung von Argumenten verhindern würden.

Zweitens liegt zumindest die Vermutung nahe, daß die Berufung auf 'Potentialität zweiter Ordnung' zur Rechtfertigung eines anthropozentrischen Speziesismus in gewissem Sinne 'metaphysisch' ist, insofern sie einen normativ gehaltvollen Begriff vom 'Wesen' des Menschen voraussetzt. Die Argumentation funktioniert nämlich nur unter der Voraussetzung daß 'der' Mensch 'als' Mensch, sozusagen seinem 'Wesen' nach argumentationsfähig ist. Die Zuschreibung moralischer Achtung verschiebt sich dann von der Anerkennung einzelner Wesen als potentieller Argumentationssubjekte hin zu ihrer Anerkennung als Mitglieder einer biologischen Art, deren definierendes Merkmal in der Argumentationsfähigkeit bestehen soll, obwohl diese bloß bei einem Teil der ihr angehörenden verwirklicht ist. Diese Verschiebung scheint mir keine logisch akzeptable Operation: Die Anerkennung, die ich einzelnen Mitgliedern einer biologischen Art schulde, überträgt sich nicht per se auf andere Mitglieder dieser Art.

Ich gebe zu, daß diese Konsequenz mißlich ist. Die Diskursethik kann meines Erachtens tatsächlich nicht zwingend 'letztbegründen', daß wir Hirntote, Schwerstgeschädigte und andere für immer argumentationsunfähige Menschen als gleichberechtigte Mitglieder des Moralischen Universums anerkennen müßten. Man muß sich aber - und hier liegt Krebs' zweites Versäumnis - klarmachen, was diese Tatsache bedeutet, das heißt erstens, wie sie in der moralphilosophischen Diskussion insgesamt einzuschätzen ist und zweitens, was sie im Rahmen der Diskursethik für Konsequenzen nach sich zieht.

Zum ersten muß sich ja nicht nur die Diskursethik von dem Vorwurf getroffen fühlen, sie könne die moralische Anerkennung irreversibel argumentationsunfähiger Menschen nicht letztbegründen. Vielmehr ist keine der bekannten moralphilosophischen Konzeptionen dazu imstande. Und allgemein bemüht man sich noch nicht einmal darum, denn die Suche nach 'letzten' Begründungen wird ja ohnehin von fast allen als völlig verstiegene wenn nicht zwangsneurotische Beschäftigung eines kleinen Kreises von Sektierern abgetan. Wer die Lückenhaftigkeit der diskursethischen Letztbegründung beklagt müßte also das Bemühen um lückenlose Letztbegründung zunächst ernsthaft begrüßen. Wer darüber hinaus die Diskursethik wegen ihrer Lückenhaftigkeit völlig verwirft, sollte selbst eigentlich über eine alternative Konzeption verfügen, die nicht an dem kritisierten Makel leidet. Dies trifft meines Wissens weder auf Krebs noch auf andere Kritikerinnen und Kritiker der Diskursethik zu.

Zum zweiten aber - und dies ist der wichtigere Einwand - verkennt Krebs die Pointe der zweistufigen Konstruktion der Diskursethik, wenn sie meint, irreversibel argumentationsunfähige Menschen würden von dieser Ethik zwangsläufig völlig rechtlos gestellt. Die Diskursethik gebietet ja eine Orientierung an solchen Normen, denen alle Vernunftwesen zustimmen können müßten, wenn sie alle sinnvollen Argumente geprüft hätten. Krebs hätte also nur dann recht, wenn die Norm 'Mit irreversibel komatösen, mit Schwerstbehinderten und Hirntoten, dürfen wir tun, was uns beliebt', argumentativ konsensfähig wäre. Das erscheint jedoch auf Anhieb als höchst unwahrscheinlich. Wenn wir uns im Rahmen eines praktischen Diskurses vor Augen halten, daß jede und jeder von uns sich schon sehr bald in der Situation derjenigen befinden könnte, über deren moralischen Status wir zu befinden haben, werden wir die betreffende Norm wohl kaum akzeptieren wollen - auch wenn es nicht geltungslogisch unmöglich wäre. Man könnte einwenden, die Behauptung, wir selbst könnten uns jederzeit in der Situation Schwerstbehinderter befinden, sei in bezug auf angeborene Behinderungen falsch. Daraus könnte aber ein Einwand nur dann erwachsen, wenn dieser Unterschied zwischen angeborener und erworbener Behinderung als ein normativ maßgeblicher Unterschied ausgewiesen werden könnte. Sonst wäre es inkonsistent, ähnliche Fälle unähnlich zu behandeln.

Aus diesen - zugegebenermaßen zu langen - Ausführungen zum Inklusionsproblem möchte ich das Fazit ziehen, daß wir zwar keine schlechthin zwingenden oder 'letzten', aber doch immerhin derart starke Gründe für die Ausdehnung des Bereichs moralischer Anerkennung auf alle Menschen haben, daß wir sie getrost als eine hinreichend begründete moralische Norm voraussetzen und gegen entgegengesetzte Interessen oder Ansprüche ins Feld führen können. Das gilt desto mehr, als eine verbleibende Ungewißheit hier vorsichtigerweise zu Lasten derjenigen verbucht werden sollte, die den moralischen Status nicht argumentationsfähiger Menschen bestreiten wollen. Es folgt also, daß wir - mindestens - allen menschlichen Wesen gegenüber zu einem Rollentausch verpflichtet sind, wenn wir den moral point of view zu unserer Perspektive machen. Aus dieser grundlegenden Forderung läßt sich freilich nicht einfach ableiten, welche Regulierungspraxis der "Medical Decisions to End Life" ethisch gerechtfertigt werden kann. Vielmehr ist damit nur der erste Schritt getan, indem wir aufgefordert werden, bei der Suche nach einer solchen Regulierungspraxis auch die Bedürfnisse und Präferenzen, welche die nicht argumentationsfähigen Betroffenen wahrscheinlich argumentativ geltend machen würden, falls sie argumentieren könnten, genauso berücksichtigen müssen, wie unsere eigenen.

Hiermit komme ich zu den eigentlichen 'Anwendungsproblemen' der Diskursethik beziehungsweise zum Bereich problembezogener praktischer Diskurse. Das sogenannte Anwendungsproblem der Ethik stellt sich in der Diskursethik in einer ganz spezifischen Weise dar. Die Forderung nach der Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente, die von allen Vernunftwesen schlechthin vorgebracht werden könnten, kann ja nur als eine regulative Idee verstanden werden. Sie ist niemals vollständig zu realisieren. Selbst wenn man diese Leitvorstellung nicht schon per se als sinnlos erachtet (wie dies zum Beispiel Albrecht Wellmer tut8) ergeben sich daher ernsthafte Probleme bei dem Versuch, die Diskursethik zur Lösung konkreter praktischer Fragen nutzbar zu machen. Zwar lassen sich gewisse generelle moralische Normen schon dadurch begründen, daß sich zeigen läßt, daß die Leugnung oder Bezweifelung ihrer Gültigkeit in performative Widersprüche führt - dies trifft zum Beispiel offensichtlich auf das Wahrhaftigkeitsgebot zu. Aber erstens wäre eine Ethik, die sich auf solche Normen beschränkte, zu inhaltsleer, und zweitens erweist sich die 'Anwendung' auch solcher Normen als nicht unproblematisch, da in konkreten Handlungssituationen Normenkollisionen nicht ausgeschlossen werden können. Der Vorgriff auf die Bedingungen auch der idealen Kommunikationsgemeinschaft, den die transzendentalphilosophische Begründungsfigur der strikten Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Argumentierens überhaupt ermöglicht, hilft hier nicht weiter. Die faktisch unaufhebbare Differenz zwischen idealer und realer Kommunikationsgemeinschaft wirft eine Reihe von Problemen auf, denen die Vertreterinnen und Vertreter der Diskursethik auf im Detail durchaus unterschiedliche Weise gerecht zu werden hoffen.

Ich möchte hier zwei in der Diskussion befindliche Probleme nebst den diskutierten Lösungsvorschlägen nennen, um deutlich zu machen, in welche Richtung sich die Anwendungserwägungen in der Diskursethik bewegen, nämlich einerseits das Abstraktions- oder auch Spezifikationsproblem, andererseits das Rigorismus- oder Zumutbarkeitsproblem. Natürlich kann ich hier nur eine ganz grobe Skizze der Argumentation geben.


Zum Abstraktionsproblem

Das Abstraktionsproblem ergibt sich daraus, daß wir als Mitglieder der realen Kommunikationsgemeinschaft niemals Normen begründen können, die schlechthin alle Eventualitäten berücksichtigen. Uns fehlt es hierzu sowohl an Zeit und Informationen wie an kognitivem Vermögen. Wir müssen daher immer in gewissem Maße generalisieren und von potentiell relevanten Besonderheiten abstrahieren. Statt auf alle Umstände aller möglichen Anwendungssituationen einer Norm können wir nur auf wenige zentrale Merkmale typischer Situationen bezug nehmen. Hierin liegt auch der Grund dafür, daß praktische Normen miteinander kollidieren können. Dieses Abstraktionsproblem - vor das sich natürlich nicht nur die Diskursethik, sondern alle nicht-partikularistischen Ethiken gestellt sehen - hat in der diskursethischen Debatte vor allem Klaus Günther in seiner 1988 erschienenen Dissertation 'Der Sinn für Angemessenheit' thematisiert, deren wesentliche Thesen Habermas sich voll zu eigen gemacht hat.9 Günther wie Habermas haben dem Problem allerdings meines Erachtens eine falsche Wendung gegeben, indem sie es als Problem der 'Anwendung' oder der 'Angemessenheit' vorab bereits begründeter Normen und nicht als ein Problem der Begründung hinreichend spezifischer Normen rekonstruiert haben. Günther meint nämlich, das Problem in praktischer Hinsicht durch eine Sequenzierung praktischer Diskurse in Begründungs- und Anwendungsdiskurse lösen oder wenigstens eingrenzen zu können. Bei der diskursiven Begründung einer Norm soll man Günther zufolge ohne die Überlegung auskommen können, wie ihre Akzeptabilität durch die Änderung von Situationsumständen beeinflußt würde. Begründet werden Normen sozusagen unter der Annahme, daß die Situationsmerkmale der Ausgangssituation bestehen bleiben. Ob diese Normen auch unter geänderten Situationsbedingungen angemessen sind, müsse dann in einem zweiten Schritt, nämlich in den sogenannten Anwendungsdiskursen geprüft werden. Diese Konzeption mag intuitiv plausibel scheinen; sie verdeckt aber die Tatsache, daß, wie zum Beispiel der Rechtsphilosoph Robert Alexy gegen Günther geltend gemacht hat,10 auch sogenannte 'Anwendungsdiskurse' stets nur dem Ziel der Begründung von Normen dienen können (wenn auch vielleicht stärker situationsspezifischer Normen) und daß, wie man hinzufügen müßte, umgekehrt auch die sogenannten 'Begründungsdiskurse' niemals ohne eine Bezugnahme auf Merkmale einer Anwendungssituation im Vergleich mit anderen Situationen auskommen können, so daß schließlich - so das Fazit - die Möglichkeit einer methodischen Trennung beider Diskursformen in Wahrheit gar nicht besteht.

Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß es mitunter pragmatisch sinnvoll sein kann, Diskurse über die Begründung allgemeinerer Normen und Diskurse über die Begründung stärker situationsspezifischer Normen institutionell zu trennen - wie es ja bei der Arbeitsteilung zwischen allgemeiner Moralphilosophie und angewandter Ethik in der Tat der Fall ist. Aber diese pragmatisch motivierte Differenzierung darf nicht zu einer systematisch-methodischen Dichotomie hochstilisiert werden, wenn man nicht ernste theoretische Konfusionen in Kauf nehmen will. Meines Erachtens muß man nämlich sehen, daß das Abstraktions- oder, wenn man lieber will, das Spezifikationsproblem in der Ethik gar nicht theoretisch und ein für alle mal 'gelöst' werden kann. Das praktische Diskursprinzip 'Bemühe Dich stets um eine Verhaltensweise, der alle zustimmen könnten, wenn sie alle sinnvollen Argumente geprüft hätten!', dieses diskursethische Grundprinzip verpflichtet jeweils auf eine ebensowohl universell rechtfertigbare wie situationsangemessene Handlungsorientierung. Unmittelbar handlungsregulierenden Moralnormen kommt gegenüber diesem Prinzip nur die sekundäre Bedeutung pragmatischer prima-facie-Regeln zu. Sie müssen in einem prinzipiell unabschließbaren diskursiv-fallibilistischen Revisionsverfahren stets aufs neue überprüft, abgewogen und spezifiziert werden. Innerhalb bereichsspezifischer oder 'angewandter' Ethiken kann daher die Frage, wie generell oder spezifisch solche Normen jeweils formuliert werden sollen, nur anhand spezifischer Erwägungen bezüglich des jeweiligen Handlungsfeldes, des Regulierungszwecks etc. beantwortet werden. Es folgt weiter, daß Kollisionen zwischen handlungsleitenden Normen niemals ausgeschlossen werden können. Die diskursive Prüfung, welche der kollidierenden Normen jeweils angemessen ist, stellt jedoch ein echtes Begründungsverfahren dar, da ihr Ergebnis nur in der Begründung einer Vorzugsrelation bestehen kann, die selbst als eine im Vergleich zu den Ausgangsnormen spezifischere Praxisnorm gelten kann.


Zum Rigorismusproblem

Die reale Kommunikationsgemeinschaft unterscheidet sich von der idealen aber nicht nur durch Zeitdruck und den Mangel an verfügbaren Informationen und kognitiven Ressourcen, sondern auch durch die Knappheit einer weiteren Ressource, des guten Willens. Wir können in der realen Handlungswelt nicht unterstellen, daß alle sich moralisch verhalten und diejenigen Normen auch befolgen werden, die sich in der Perspektive von Teilnehmern an rationalen praktischen Diskursen als akzeptabel erweisen lassen. Es ist daher nicht nur nicht auszuschließen, sondern in vielen Fällen sogar wahrscheinlich, daß diejenigen, die sich ohne Berücksichtigung der mangelnden Moralität anderer selbst stets so verhalten, wie es unter idealen Voraussetzungen moralisch wäre, am Ende nicht nur selbst - salopp ausgedrückt - als die Dummen dastehen, sondern überdies Folgen provozieren, die auch für dritte inakzeptabel sein könnten. Sowohl Habermas als auch Apel sehen daher die Gefahr eines Rigorismus für den Fall, daß die Verbindlichkeit diskursethisch begründbarer Normen nicht zu der Frage ihrer allgemeinen Befolgung in Beziehung gesetzt wird. Für Habermas ist die Befolgung diskursethisch gültiger Normen nur unter der Bedingung auch zumutbar, daß sie allgemein befolgt werden. Für diese Befolgung sorgt das Sanktionspotential des Rechtssystems. Die Grenzen des Rechtsstaats bezeichnen damit zugleich die Zumutbarkeitsgrenzen der Moral überhaupt. Darüber hinaus gibt es, Habermas zufolge, eine weitere Grenze der Zumutbarkeit moralischer Normen. Sie wird erreicht, sobald die Befolgung einer Norm für die betreffende Person eine derartige Härte darstellen würde, daß ihr gesamter Lebensentwurf, ihr authentisches Selbstverständnis in Gefahr geriete. In diesem Zusammenhang spricht Habermas von 'existentieller Unzumutbarkeit'.

Für Apel hingegen endet mit der Zumutbarkeit moralischer Normen, wie sie vor dem Hintergrund der idealisierenden Unterstellung allgemeiner Normbefolgung begründet werden können, nicht die gesamte diskursethisch begründbare Moral. Apel hält nämlich ein sogenanntes 'Ergänzungsprinzip' bereit, das in Fällen, in denen eine 'direkte' Anwendung diskursiv begründbarer Normen unzumutbar wäre, dennoch eine moralische Orientierung ermöglichen soll, indem es die Herstellung von Bedingungen zur Pflicht macht, in denen diese Unzumutbarkeit nicht mehr gegeben wäre.11

Ich muß nun gestehen, daß ich beide Konzeptionen sowohl für überflüssig, als auch für theoriearchitektonisch desaströs halte, kann dies aber hier nicht in hinreichender Detailgenauigkeit begründen. Gegen Habermas' Konzeption läßt sich unter anderem einwenden, daß auch der Rechtsstaat die Zumutbarkeit bestimmter ('existentiell' nicht unzumutbarer) genereller moralischer Normen nicht in jedem Fall zu garantieren vermag und daß eine Moral, die außerhalb rechtsstaatlicher Zustände gar nichts mehr zur Handlungsorientierung beitragen kann, unbefriedigend ist. Apels Einführung eines 'regulativ-teleologischen' 'Ergänzungsprinzips' hingegen ist entweder redundant - wenn das Ergänzungsprinzip als Implikation des Diskursprinzips verstanden wird - oder es führt zu einer Auflösung des universalistischen Verbindlichkeitsanspruchs der Diskursethik - wenn das Ergänzungsprinzip dem Diskursprinzip gleichgestellt werden soll - oder gar zu einer stillschweigenden Substitution des diskurstheoretisch interpretierten moral point of view durch den Standpunkt eines sozialtechnologisch-manipulativ orientierten Avantgardestandpunktes - falls übergeordnet werden soll. (Es scheint übrigens - insbesondere vor dem Hintergrund der Präzisierungsversuche des Apel-Schülers Marcel Niquet, mit denen Apel sich einverstanden erklärt hat12 - daß Apel die zweite Option präferieren würde.)

Ich selbst möchte daher eine dritte Interpretation des Rigorismusproblems vorschlagen, der zufolge dieses Problem als Bestandteil des Abstraktionsproblems angesehen werden muß. Rigoristische Konsequenzen lassen sich nämlich bereits durch eine hinreichend spezifische Formulierung moralischer Normen vermeiden. Es spricht ja beispielsweise nichts dagegen, in die Formulierung der Anwendungsbedingungen einer moralischen Norm - sozusagen selbstreferentiell - auch eine Vorbehaltsklausel einzufügen, die zum Beispiel auf den Grad der Befolgung dieser Norm selbst Bezug nimmt. Nur durch ein solches Verfahren der situationsrealistischen Normenbegründung läßt sich eine Aufweichung des universalistischen Verpflichtungssinns vermeiden, die unweigerlich folgen muß, wenn man zur moralischen Gültigkeit von Normen noch weitere gleichrangige Kriterien - nenne man sie 'Zumutbarkeit', 'Befolgungsgültigkeit' oder wie auch immer - hinzugesellt.

Zur Regulierung der Euthanasieproblematik

Aus der zuletzt genannten Eigenschaft der realen Kommunikationsgemeinschaft - der unzureichenden Verfügbarkeit von 'gutem Willen' - resultiert auch die Notwendigkeit, den grundlegenderen Prinzipien des Zusammenlebens durch die Androhung von Sanktionen durch das Rechtssystem zusätzlichen, motivational wirksamen Nachdruck zu verleihen. Hierdurch ergibt sich eine weitere Differenzierung der Anwendungsproblematik, der ich hier nicht wirklich gerecht werden kann. Jedenfalls ist leicht einzusehen, daß dem Verbot von Tötung und Mord innerhalb aller Rechtssysteme eine erstrangige Bedeutung zukommt und diese Delikte mit besonders schweren Strafen bedroht sind. Die Notwendigkeit rechtlicher Normierung, rechtlicher Sanktionen kann hier ethisch besonders zwingend aufgezeigt werden. Die ethische Diskussion über 'MDELs' kann daher nur um den Preis der völlig situationsenthobenen Abstraktheit rechtsethische Fragen ausklammern. Niemand würde sich wohl sicher fühlen, wenn Entscheidungen über Beihilfe zum Selbstmord, Tötung auf Verlangen beziehungsweise Euthanasie (im niederländischen Verständnis), oder gar die Tötung Schwerstbehinderter oder Komatöser ohne deren Einverständnis allein dem Gewissen eines Arztes anheimgestellt - und nicht vielmehr der Sensibilität und Kraft dieses Gewissens durch Kriterienkataloge und handfeste Sanktionsdrohungen nachgeholfen würde.

Aus den vorigen Ausführungen läßt sich folgern, daß die Entscheidung über die moralische Zulässigkeit von 'MDELs' in Diskursen getroffen werden müßte, in denen erstens auch die Bedürfnisse und Präferenzen nicht-argumentationsfähiger Menschen gleichberechtigt geltend gemacht werden müßten, die zweitens (gegen Günther) als echte Begründungsdiskurse zu verstehen sind, in denen die Abwägung gegenüberstehender Gründe geleistet werden müßte (und solche Gründe könnten auch generelle Normen sein), die drittens (gegen Habermas und vielleicht auch gegen Apel) bereits von vornherein für die Zumutbarkeit ihrer Ergebnisse Sorge tragen müßten, so daß 'Zumutbarkeit' nicht als ein externes Prüfungskriterium an die Diskursergebnisse noch einmal herangetragen werden dürfte und die viertens auch die erfolgreiche Durchsetzung der betreffenden Normen sowie - und das ist natürlich im Zusammenhang mit der Euthanasiediskussion ein wichtiger Punkt - die Folgen und Nebenwirkungen dieser Normendurchsetzung im Blick haben müßten.

Statt mich nun an solchen Diskursen auf einer inhaltlichen Ebene zu beteiligen und eine nicht nur subjektive, sondern in meinem Fall auch weitgehend inkompetente Abwägung von substantiellen Gründen vorzutragen, möchte ich ein paar Bemerkungen zur Struktur der niederländischen Regulierung der 'Euthanasie' machen. Aktive Sterbehilfe (Euthanasie) und Beihilfe zum Suizid sind in den Niederlanden ebenso wie in der BRD generell verboten (durch die §§ 293 und 294 des niederländischen Strafgesetzbuchs). Von einer Verfolgung entsprechender Handlungen wird jedoch abgesehen, falls die Voraussetzungen des § 40 (Notstand) erfüllt sind. Dieser § 40 ist sehr allgemein formuliert; in Zusammenhang mit Fällen von aktiver Sterbehilfe (Euthanasie) wird seine Anwendung reguliert durch eine Übereinkunft zwischen der niederländischen Ärztevereinigung und dem Justizministerium von November 1990, welche die Bedingungen für eine der medizinischen Ethik entsprechende Maßnahme der Sterbehilfe formuliert und die 1994 als rechtsverbindlich statuiert wurde.

Was mich an dieser Regelung interessiert ist die Tatsache, daß sie auf den ersten Blick eher mit der Konzeption einer 'externen' Prüfung der Zumutbarkeit vorab gerechtfertigter Normen übereinzustimmen scheint, also mit eben jeder Konzeption, gegen die ich eben in Zusammenhang mit dem sogenannten Rigorismusproblem Stellung genommen habe. Denn die Verbote der Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zum Suizid bleiben, wie es scheint, nicht nur generell in Kraft, es wird ihnen auch kein gleichrangiges Recht (etwa auf selbstbestimmten Tod) gegenübergestellt (wie dies etwa dem 'Assisted Suicide'-Gutachten von Dworkin, Nagel, Nozick, Rawls, Scanlon und Thomson entsprechen würde). Diese offensichtliche Asymmetrie ist auf den ersten Blick erstaunlich. Ich denke aber, daß sie einen guten pragmatischen Sinn hat. Dieser Sinn leuchtet jedoch meines Erachtens nur dann ein, wenn man sich den Unterschied zwischen moralischen und rechtlichen Regulierungen klar macht.

Als ein im Sinne der Willensfreiheit autonomes Moralsubjekt stehe ich jederzeit und mit jeder meiner Handlungen unter Rechtfertigungsdruck. Als kommunikativ handelnde Person habe ich immer schon Verantwortung für die universelle Akzeptabilität meiner Handlungsweise übernommen. Als ein im Sinne der Privatautonomie autonomes Rechtssubjekt oder als Staatsbürger hingegen bin ich von Rechtfertigungszwängen überall dort entlastet, wo ich nicht gegen ausdrücklich geltendes Recht verstoße. Hält man sich dies vor Augen, erschließt sich der pragmatische Sinn der eigentümlich asymmetrischen Konzeption. Es handelt sich, so vermute ich jedenfalls, um eine Zuteilung von Rechtfertigungszwängen bei verbleibender großer Ungewißheit über die normativen Grundlagen konkreter Einzelentscheidungen. Die Mediziner sollen rechtlich gezwungen werden, ihr Handeln einer öffentlichen Rechtfertigung auszusetzen. Und innerhalb dieser öffentlichen Rechtfertigungen ist es natürlich nicht mehr möglich, abermals auf ein 'asymmetrisch' arrangiertes Ensemble von Gründen oder Normen zu rekurrieren. Hier muß dann wirklich über Gründe und Gegengründe auf gleicher Ebene gestritten werden und zwar sowohl über empirische Sachverhalte als auch über Normen - zum Beispiel über das praktische Spannungsverhältnis zwischen individueller Selbstbestimmungsrechten und gesellschaftlichen Schutzpflichten.

Dieser Aspekt der niederländischen Regulierungspraxis, der Zwang zur öffentlichen Darlegung und Rechtfertigung in jedem Einzelfall, wird durch mehrere Punkte der 1990 kodifizierten Euthanasie-Richtlinien unterstrichen, etwa durch die Verpflichtung, jeden Fall aktiver Sterbehilfe schriftlich und ausführlich zu dokumentieren sowie natürlich durch die Pflicht zur Anzeige jedes Falls. (daß dieser Pflicht noch 1995 Studien zufolge nur in 41 % der Fälle nachgekommen worden sein soll, muß allerdings bedenklich stimmen.) Öffentlichkeit und öffentliche, nämlich im Rahmen öffentlicher Gerichtsverfahren zu praktizierende Rechtfertigung sind also wesentliche Elemente der niederländischen Regulierungspraxis. Wenn man so will, kann man darin ein 'diskursethisches' Moment sehen (wobei das Öffentlichkeitsprinzip natürlich auch im Rahmen anderer Ethiken eine Rolle spielt und schon von Kant in seiner Schrift zum ewigen Frieden formuliert worden ist).

Einerseits ist eine solche flexible Regelung wie die niederländische rechtsdogmatisch und potentiell auch ethisch nicht unproblematisch. Rechtspuristen und juristische Logiker werden sie jedenfalls wohl - und nicht unbedingt mit schlechten Gründen - als zu willkürlich und unberechenbar kritisieren. Den Streit, den die in erster Instanz ungeahndet gebliebenen Fälle nicht-freiwilliger Tötung zweier behinderter Säuglinge im November 1995 hervorgerufen haben (ich meine die Fälle Kadijk und Prins, von denen ich nicht weiß, wie sie in den folgenden Instanzen behandelt wurden) werden sie als gefährliche Folge dieser Beliebigkeit deuten. In einer stärker rechtssoziologisch orientierten und vielleicht auch optimistischeren Lesart erscheint diese Regulierungsmethode hingegen als Teil einer umfassenderen Prozeduralisierungsstrategie, die der im Gefolge der Modernisierung zunehmenden normativen Ungewißheit Rechnung trägt und die immerhin die Chance gesellschaftlicher Lernprozesse in sich birgt. Lernprozesse, die sich dann auf die Dauer auch in detaillierteren und verbindlicheren rechtlichen Regulierungen niederschlagen könnten (wie das ja zum Teil schon stattgefunden hat. Ob diese Chance zu gesellschaftlichen Lernprozessen genutzt und gegen die Gefahr des Opportunismus gegenüber problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen verteidigt werden kann, wird sich zeigen müssen. Der geltende Standard gesellschaftlicher Streitkultur in den Niederlanden scheint jedenfalls keine schlechte Voraussetzung für eine positive Entwicklung zu bieten.



Anmerkungen

1 Auf dem Kongreß über 'Pragmatismus - ohne regulative Ideen?' am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen am 13. Juni 1997.

2 Krebs, Angelika (1995: 325 ).

3 Krebs, Angelika (1995: 323 f. ).

4 Krebs, Angelika (1995: 325 ).

5 Vgl. Skirbekk, Gunnar (1995).

6 So Dietrich Böhler in seiner Vorlesung im Wintersemester 1986/97; unveröffentlicht.

7 Vgl. Bloch, Ernst (1959).

8 Vgl. Wellmer, Albrecht (1986); Wellmer, Albrecht (1992).

9 Vgl. Günther, Klaus (1988), Habermas, Jürgen (1991).

10 Vgl. Alexy, Robert (1995/1993).

11 Vgl. Apel, Karl-Otto (1988).

12 Vgl. Niquet, Marcel (1996); Apel, Karl-Otto (1996b: 8, 74 f., 118 [Anm. 34]).



Literatur:

Alexy, Robert (1995/1993): Normenbegründung und Normanwendung. In: Alexy, Robert (1995): Recht, Vernunft, Diskurs: Studien zur Rechtsphilosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 52-70.

Apel, Karl-Otto (1988): Diskurs und Verantwortung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Apel, Karl-Otto (1996b): Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung in Habermas' Faktizität und Geltung (Dritter, transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken). Manuskript.

Bloch, Ernst (1959): Das Prinzip Hoffnung. Drei Bände. Gesamtausgabe Band V. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Günther, Klaus (1988): Der Sinn für Angemessenheit: Anwendungsdiskurse in Moral und Recht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Krebs, Angelika (1995): Feministische Ethik: Eine Kritik der Diskursrationalität. In: Demmerling, Christoph / Gabriel, Gottfried / Rentsch, Thomas (Hg.) (1995): Vernunft und Lebenspraxis: Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur: Für Friedrich Kambartel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 309-328.

Niquet, Marcel (1996): Verantwortung und Moralstrategie: Überlegungen zu einem Typus praktisch-moralischer Vernunft. In: Apel, Karl-Otto / Kettner, Matthias (Hg.) (1996): Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 42-57.

Skirbekk, Gunnar (1995): Ethischer Gradualismus: jenseits von Anthropozentrismus und Biozentrismus? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3/1995, S. 419-434. Originalversion: Skirbekk, Gunnar (1994): Ethical Gradualism: beyond Anthropocentrism and Biocentrism? In: Skirbekk, Gunnar (Hg.) (1994): The Notion of Sustainability and its normative Implications. Stockholm: Scandinavian University Press, S. 79-126.

Wellmer, Albrecht (1986): Ethik und Dialog: Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Wellmer, Albrecht (1992): Konsens als Telos der sprachlichen Kommunikation? In: Giegel, Hans-Joachim (Hg.) (1992): Kommunikation und Konsens in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 18-30.




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