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Werner, Micha H. (1998):

Begründung nach der sprachpragmatisch-hermeneutischen Wende.

Überarbeitete Fassung. Originalversion in: Moralbegründung und angewandte Ethik: Proceedings. Die Beiträge des dritten Treffens des Center for Ethics Catholic University Nijmegen (CEKUN) und des Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (ZEW) am 11./12. Juni 1998, S. 4-15.




Die gegenwärtige Situation der philosophischen Disziplin der normativen Ethik einschließlich der sogenannten "angewandten" Ethik - meines Erachtens sollte man hier allerdings besser von "bereichsspezifischer" Ethik sprechen - nimmt sich einigermaßen paradox aus.

Einerseits muß man konstatieren, daß die vor allem in den siebziger Jahren vollzogene "Rehabilitation der praktischen Philosophie" - so der Titel zweier von Manfred Riedel 1972 und 74 herausgegebener Sammelbände - ziemlich erfolgreich war. Normative Ethik wird als eine ernst zu nehmende philosophische Disziplin inzwischen weitgehend anerkannt. Und die Tatsache, daß die wissenschaftliche, technische und ökonomische Entwicklungsdynamik, die Zunahme der Komplexität und gleichzeitig der Kontingenz der Lebensbedingungen in modernen Gesellschaften nicht allein ein höheres Maß an instrumenteller Rationalität, also kybernetischem Steuerungswissen, sondern auch an sogenanntem "Orientierungswissen" als Desiderat erscheinen läßt, sichert auch der bereichsspezifischen Ethik derzeit eine gewisse Akzeptanz.

Andererseits aber erscheint der wissenschaftstheoretische Status normativer Ethik, vor allem in Hinblick auf die Begründungsproblematik, nicht minder prekär als in den siebziger Jahren. Ganz im Gegenteil, könnte man sagen. Die Aufbruchstimmung, die in bezug auf Möglichkeiten einer rationalen Ethikbegründung von Ende der sechziger bis Anfang der achtziger Jahre zu spüren war - man denke unter anderem an Bernard Gerts The Moral Rules: A New Foundation for Morality (1966), John Rawls Theory of Justice (1971), Alan Gewirths Reason and Morality (1978) und die sowohl im methodischen Konstruktivismus als auch der Frankfurter Sprachpragmatik entwickelten Ansätze zu einer Diskursethik, zu erinnern wäre hier beispielsweise an Friedrich Kambartels Theorie und Begründung (1976) oder Karl-Otto Apels bereits 1967 gehaltenen Vortrag Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik: Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft, 1973 erstmals veröffentlicht, ein Jahr darauf auch in dem schon erwähnten Band Manfred Riedels - diese Aufbruchstimmung also unter den Vertretern normativer Ethik, deren kämpferischer Charakter oft auch in heftigen Angriffen auf den vorherrschenden Begründungsskeptizismus, beispielsweise des Kritischen Rationalismus, zum Ausdruck kam, ist mittlerweile sehr weitgehender Vorsicht, resignativer Zurückhaltung oder gar einem erneuerten Skeptizismus gewichen. So sieht sich Rawls bekanntlich inzwischen zu einer vorsichtigeren Deutung des mit seiner Theorie der Gerechtigkeit zu verbindenden Geltungsanspruchs genötigt (vgl. Rawls 1992/1985), vormalige Vertreter des methodischen Konstruktivismus wie Peter Janich wenden sich, mittlerweile zu methodischen Kulturalisten konvertiert, vehement gegen jeden übertriebenen "Certismus" (vgl. Hartmann / Janich 1996: 59; vgl. 19, 56 f.), Kambartel argumentiert von der Warte eines am späten Wittgenstein orientierten Sprachspielrelativismus aus gegen die vormals von ihm selbst vertretene Diskursethik (vgl. Kambartel 1989c) und selbst Habermas, der bislang keine vergleichbar schroffe Wendung vollzogen hat, ist von der enger am klassischen Modell kantischer Transzendentalphilosophie orientierten Transzendentalpragmatik Karl-Otto Apels deutlicher abgerückt (vgl. Habermas 1976c: 338 ff.; 1983: 94-110; 1991: 185-199; 1996: 62 f.) - obwohl keineswegs ausgemacht ist, ob dieses Abrücken von transzendentalphilosophischen Begründungsfiguren sein eigenes theoretisches Projekt unbeschadet lassen kann (vgl. Apel 1989; Kuhlmann 1992/1986, 1994: 100 ff.; Reese-Schäfer 170 ff.).

Diese Situation, wie ich sie nun skizziert habe - einerseits weitgehende Akzeptanz normativer Ethik und hohe Erwartungen an die Orientierungsleistungen bereichsspezifischer Ethik, andererseits bleibende Uneinigkeit in Fragen der Ethikbegründung und zunehmende Aufweichung der Verbindlichkeitsansprüche kognitivistischer Ethiken - diese Situation läßt sich, je nachdem, in einer eher wohlmeinenden oder einer eher kritischen Weise deuten. Im ersteren Fall ließe sie sich etwa als Ergebnis eines Normalisierungsprozesses verstehen, der sich daraus ergibt, daß die Vertreterinnen und Vertreter normativer Ethik nach der erfolgreichen (Re-) Etablierung ihrer Disziplin einerseits, angesichts ohnehin abflauender Selbstgewißheit der szientistischen Gegenpartei andererseits, nicht mehr primär um ihre innerwissenschaftliche Anerkennung kämpfen müssen und sich daher, in Gestalt bereichsspezifischer Ethik, stärker den Problemen selber zuwenden können, zu deren Lösung sie eigentlich berufen sind. Das Abflauen der Begründungsdiskussion erscheint in dieser Lesart als unproblematischer Übergang zu einer stärker pragmatischen Orientierung, wie er in der Vergangenheit auch in anderen Disziplinen stattgefunden hat - man denke etwa an die "Überwindung" der Grundlagenkrise in der Mathematik (vgl. Thiel 1972) - ohne daß deren Fruchtbarkeit dadurch beeinträchtigt worden wäre.

Obwohl diese wohlmeinende Deutung, der zufolge sich die normative Ethik bereits im Übergang von der explorativen zur paradigmatigmatischen Phase der Wissenschaftsgenese befindet (so etwa Konrad Ott, vgl. 1997: 15-31), nicht in allen Punkten verfehlt sein mag, ist sie meines Erachtens doch zu optimistisch. Erstens ist das abflauende Interesse an Begründungsfragen jedenfalls auch eine Reaktion auf bleibenden und bislang unüberwindlich scheinenden Dissens. Zweitens - und das ist der entscheidende Punkt - kann dieser Dissens in der normativen Ethik - anders als in anderen Wissenschaften - prinzipiell nicht mit Verweis auf einen unversehrt bleibenden Bestand gemeinsamer praktischer Zielsetzungen oder Erkenntnisinteressen überspielt werden. Denn derartige Zielsetzungen sind in der normativen Ethik, anders als dies bei anderen Disziplinen der Fall ist, der "Anwendung" der wissenschaftlichen Erkenntnisse ja nicht vorgeordnet, sondern gehören vielmehr zum problematischen Gegenstand ihres Erkenntnisbemühens selbst.

Spätestens hier sollte ich allerdings ein paar Bemerkungen zu dem Vorbegriff von "ethischer Begründung" einschieben, der meinen Überlegungen bislang bereits zugrunde lag. Das moralphilosophische Begründungsproblem möchte ich verstehen als die Aufgabe, einen Grund der Verbindlichkeit moralischer Normen anzugeben. Darunter hätte man sich eine Argumentation vorzustellen, die imstande wäre, einen - genauer gesagt: einen jeden - rationalen Skeptiker zu überzeugen, der mit der Rückfrage "warum" sowohl jede Handlungsverpflichtung als auch jede unzureichende Begründung für diese Handlungsverpflichtung zurückweist, solange er nicht den Grund dafür eingesehen hat. Meines Erachtens liegt es auf der Hand, daß, solange dies nicht wenigstens als prinzipiell möglich und erstrebenswert unterstellt werden kann, normative Ethik einem Handel mit ungedeckten Wechseln gleichkommt. Denn mit welchem Recht sollten wir Handlungsorientierungen als rational ausweisen können, wenn wir nicht zureichend begründen können, warum man sie wählen sollte?

Wenn dies nun richtig ist, dann unterscheidet sich das Verhältnis zwischen Grundlagenwissenschaft und angewandter Wissenschaft in der normativen Ethik fundamental von dem in anderen wissenschaftlichen Disziplinen: Auch eine auf falschen oder unvollständigen Prämissen beruhende physikalische Hypothese mag in vieler Hinsicht zu akzeptablen Ergebnissen führen; ethische Normen hingegen sind überhaupt nur insoweit "von Wert" (sofern eine solche Beurteilung ohne petitio principii möglich wäre), als ihre Verbindlichkeit plausibel begründet werden kann. Denn daß sie um ihrer Nützlichkeit willen gewählt werden könnten, ist schon deshalb ausgeschlossen, weil, ganz abgesehen vom zu erwartenden Dissens über die Kriterien einer derart allgemein formulierten Nützlichkeit, die Orientierung am Nutzen selbst bereits ein ethisch zu rechtfertigendes Handlungsprinzip darstellen würde.

Tugendhat ist also zuzustimmen, wenn er formuliert, der "Anspruch des Begründetseins ist ein definitorisches Charakteristikum alles Moralischen." Und daher hat Tugendhat auch recht mit seinem Befremden darüber, "daß, wenn der Anspruch, begründet zu sein, charakteristisch ist für alle moralischen Normen, so viel, was über Moral geschrieben wird - gerade heute -, diesen Wesenszug nicht einmal berücksichtigt." (Tugendhat 1997: 14 f.) Ob die Abneigung vieler Vertreter der bereichsspezifischen Ethik gegenüber allzu tiefschürfenden Begründungsdiskussionen (mustergültig Horster 1995) vielleicht auch ein wenig durch die Sorge um das eigene Ansehen motiviert ist? Die es nicht ratsam erscheinen läßt, den Fokus des Interesses auf brüchige Stellen im Fundament der gerade erst mühsam etablierten eigenen Disziplin zu richten?

Wie dem auch sei, von bloßen Abwiegelungs- oder Entdramatisierungsversuchen in bezug auf das moralphilosophische Begründungsproblem ist meines Erachtens nichts zu halten. Das bedeutet allerdings nicht, daß deshalb Ansätze zu einer "provisorischen Moral", zu einer Ethik des Umgangs mit moralischem Dissens oder die Suche nach legitimen Strategien des Umgangs mit normativer Ungewißheit prinzipiell widersinnig oder nutzlos sein müßten (hier denke ich beispielsweise an die Bemühungen von Christoph Hubig). Selbst eine pragmatische Herangehensweise an ethische Streitfragen, beispielsweise das Bemühen, Problemfelder zunächst einmal aus der Perspektive verschiedener ethischer Konzeptionen zu betrachten, um so möglicherweise einen hinreichend breiten 'overlapping consensus' ausfindig zu machen - ein in der angewandten Ethik beliebtes Verfahren -, ist nicht in jedem Fall verwerflich. Dergleichen kann vielmehr - unter bestimmten Randbedingungen allerdings! - legitim, manchmal sogar empfehlenswert sein. Nur muß man sich jederzeit über den Status solcher Versuche im klaren sein: Verdienstvoll kann eine Ethik des Dissensmanagements oder des Umgangs mit normativer Ungewißheit nur sein, wenn vorab bereits bestimmte Normen als begründungsfähig unterstellt werden können - beispielsweise die Orientierung an konsensfähigen Lösungen oder wenigstens der Primat friedlicher Konfliktbeilegung. Und ebenso führt auch die Orientierung an transkonzeptueller Kohärenz oder die Suche nach einem overlapping consensus nicht aus den Rechtfertigungszwängen heraus, sondern ist ihrerseits nur eine von mehreren möglichen und gleichermaßen rechtfertigungspflichtigen Optionen. Daß diejenige praktische Lösung am moralischsten sei, auf welche die verschiedenen Fraktionen sich jeweils am ehesten einigen könnten, ist ja keineswegs ausgemacht.

Wer das nicht sehen will, macht sich eines Vergehens schuldig, das sich in Anlehnung an ein Diktum Hegels als "Hochmut der Demut" bezeichnen läßt. Wer - vermeintlich demütig - die Ansicht vertritt, es seien keine universell verbindlichen Begründungen möglich und man solle daher - aber dieses "Daher" folgt meines Erachtens gar nicht - man solle daher zum Beispiel auf Toleranz und die Tugend wechselseitigen Verständnisses setzen, oder man solle doch auf traditionelle Üblichkeiten vertrauen, oder man solle das Geschehen der Rationalität der modernen Funktionssysteme überlassen oder sich schließlich gleich in der "Tugend der Orientierungslosigkeit" (Goebel / Clermont 1997) üben - wer solche Ratschläge gibt, macht sich der Hochmut der Demut schuldig, weil er sich weigert anzuerkennen, daß er auch mit diesen Ratschlägen Geltungsansprüche erhebt, die er gegenüber allen Adressaten zu rechtfertigen imstande sein müßte. Dogmatismus und Begründungsskeptizismus sind nur zwei Seiten derselben Medaille.

Aber wenn Moralphilosophie um das Begründungsproblem nicht herumkommt - und das gilt meines Erachtens nicht einmal ausschließlich für Moralphilosophie in Gestalt der normativen Ethik, sondern sogar auch für die Erörterung sogenannter metaethischer Fragen, was ich hier leider nicht im Detail zeigen kann -, wenn sich also Moralphilosophie nur sinnvoll betreiben läßt, sofern die Begründung ethischer Verpflichtungen als möglich unterstellt werden kann, dann stellt sich natürlich die Frage, wie eine solche Begründung im gegenwärtigen philosophischen Diskussionskontext noch aussehen könnte.

Die Formulierung dieser Frage ist allerdings problematisch und zwar aus Gründen, die mit dem Problem der Hermeneutik verbunden sind. Denn die Formulierung "Wie kann die Begründung ethischer Regeln im gegenwärtigen philosophischen Diskussionskontext aussehen?" suggeriert einerseits, daß mit dem Begriff "Begründung" ein Problem gemeint ist, dessen Bedeutung in verschiedenen historischen Kontexten im wesentlichen gleichgeblieben sei, andererseits suggeriert sie, daß die Möglichkeiten der Lösung dieses Problems sich in den verschiedenen Kontexten veränderten. Zum ersten könnte man jedoch einwenden, daß die Bedeutung dessen, was mit dem Begriff "Begründung" gemeint ist, sich im Verlauf der Geschichte der Philosophie verändert habe. Aber dieser Einwand ist nur von bedingter Relevanz.

Zwar ist das sokratisch-platonische logon didonai selbstverständlich nicht einfach mit dem identisch, was wir heute als Begründung bezeichnen; und um wirklich zu verstehen, was die Praxis des logon didonai bedeutet, müssen wir sie als Teil einer umfassenderen Einheit interpretieren - zunächst als Teil der sokratisch-platonischen Philosophie, dann auch als Teil der athenischen Kultur. Dies ist spätestens seit Gadamer (1960) eine hermeneutische Trivialität. Andererseits könnten wir, wenn es nicht auch Kontinuitäten und Übersetzbarkeit gäbe, nicht einmal feststellen, daß wir das "logon didonai" nicht schlechthin mit unseren Begriffen "Rechtfertigen" oder "Begründen" identifizieren dürfen. Wir müssen daher unterstellen, daß wir trotz allem prinzipiell verstehen können, was mit Begriffen in anderen Sprachsystemen und Kulturen gemeint ist. Weil ernsthafte Verstehensbemühungen stets als Bemühungen um ein richtiges Verstehen auftreten, müssen wir überdies - gegen Gadamer (vgl. Gadamer 1960: 280; kritisch hierzu Kuhlmann 1992; Apel 1973: 46) - annehmen, daß es nicht nur ein immer wieder erneutes "Andersverstehen", sondern darüber hinaus auch die Möglichkeit eines "Besserverstehens" gibt. Weil zudem der Sinn von Äußerungen, entgegen den Annahmen der intentionalistischen Semantik, sich nicht in den Sprecherintentionen erschöpft (vgl. die Beiträge in Meggle 1993, zur Kritik zudem Habermas 1981: 370 ff.; Kuhlmann 1992), müssen wir es sogar für möglich halten, daß wir einen Begriff, eine Aussage oder einen Text besser verstehen können als der Sprecher oder Autor.

Was den Begriff der Begründung im besonderen angeht, so müssen wir sogar in einem gewissen Sinne Universalität unterstellen: Wir müssen unterstellen, daß dasjenige, was wir mit "Begründung" meinen, in allen möglichen Sprachen ein sinnvolles Konzept darstellt. Dies zu begründen, wäre Gegenstand einer transzendentalhermeneutischen Untersuchung, die zu zeigen hätte, daß wir Sprachen, in denen die Möglichkeit einer durch Gründe motivierten Akzeptierung und Zurückweisung von Geltungsansprüchen - und damit, jedenfalls in einer mehr oder weniger rudimentären Form, auch "Begründung" - nicht gegeben wäre, gar nicht als Sprachen identifizieren könnten, daß wir also sozusagen keinen Grund für die Behauptung geltend machen können, es handele sich bei einer beobachtbaren Praxis, welche diese Möglichkeit nicht umfaßt, um eine Sprache.

Die zweite Suggestion der Frage, "Wie kann die Begründung ethischer Regeln im gegenwärtigen philosophischen Diskussionskontext aussehen?", die Suggestion, die Mittel der Lösung des Begründungsproblems seien kontextabhängig, ist eindeutig unberechtigt. Bei Strafe der Absurdität können wir nicht unterstellen, daß eine Begründung, die wir heute mit den besten uns bekannten Gründen für gültig oder für ungültig halten, dies in einem anderen historischen Diskussionskontext nicht gewesen wäre. Sofern wir und solange wir eine Aussage für begründet oder unbegründet halten, müssen wir vielmehr auch unterstellen, daß alle urteilsfähigen Wesen unsere Einschätzung jederzeit teilen würden. Das mag für die Begründung praktischer Regeln zunächst kontraintuitiv scheinen. Aber dieser Schein verflüchtigt sich, wenn wir erstens deutlich zwischen den hypothetischen und den kategorischen Anteilen dieser Regeln unterscheiden und uns zweitens klarmachen, inwiefern nicht nur "pragmatische" praktische Regeln (etwa die Klugheitsregel "Wenn du einen Nagel in die Wand schlagen willst, dann solltest Du Dich eines Hammers bedienen!"), sondern auch situationsspezifische "moralische" Regeln "hypothetische" Voraussetzungen haben ("Wenn Hugo und Otto jeweils ein gleichwertiges Interesse am Besitz des Kuchenstücks haben, wenn es keine weiteren Interessenten gibt und wenn keine weiteren relevanten Verteilungsaspekte zu erkennen sind, dann soll der Kuchen gleichmäßig zwischen Hugo und Otto aufgeteilt werden!"; zur Rede vom "pragmatischen", "ethischen" und "moralischen" Gebrauch der praktischen Vernunft vgl. Habermas, 1991b).

Wenn aber die Rede von der Begründung praktischer Regeln überhaupt einen Sinn haben soll, dann müssen diese Regeln außer den hypothetischen Anteilen auch noch solche haben, die nicht hypothetisch sind. Man kann hier an die Sätze der deontischen Logik denken oder auch an die Erkenntnis, daß präskriptive Sätze nicht aus Deskriptionen abgeleitet werden können. Wenn wir beispielsweise davon überzeugt sind, daß der Schluß von empirischen Sätzen auf präskriptive Sätze unerlaubt ist, dann können wir nicht sinnvoll behaupten, dieselbe formale Operation sei tausend Jahre früher logisch korrekt gewesen. Wir können nur konzedieren, daß man, aufgrund des damals erreichten sprachlichen Differenzierungsniveaus, aufgrund der zeitgenössischen philosophischen Voraussetzungen oder dergleichen, damals kaum imstande war, diese Tatsache zu erkennen, so daß die von uns inkriminierten Schlußweisen im damaligen Kontext plausibel scheinen konnten - aber deswegen eben noch keineswegs gültig waren.

Nun zurück zur zentralen Frage, nach der Begründbarkeit ethischer Normen.

Der erste Versuch, den durch die Erfahrung kultureller Pluralität ausgelösten ethischen Relativismus zu überwinden, lag in der Bezugnahme auf Natürlichkeit, die zunächst von den Sophisten traditionskritisch gegen konventionelle gesellschaftliche Setzungen ausgespielt wurde. Bis zu Beginn der Neuzeit sind die dominierenden Versuche einer überpositiven Rechtfertigung von Moral und Recht stets in irgendeiner Weise auf die Strukturen einer objektiv bestehenden Seinsordnung bezogen und in diesem Sinne ontologisch. Der spätmittelalterliche Nominalismus und sein moralphilosophisches Pendant, der voluntaristische Verweis auf die Anordnungen eines göttlichen Gesetzgebers, hat solche Konzeptionen erfolgreich angegriffen, und die Humesche Distinktion hat schließlich jeder direkten normativen Aufladung von empirischen Phänomenen und damit der tragenden Rolle von Natürlichkeitsargumenten den Boden entzogen. Ontologisch-naturrechtliche Begründungsmuster mußten durch vernunftrechtliche ersetzt werden. Und hier sind vor allem zwei Typen beachtenswert: Erstens an "subjektiver" Zweckrationalität orientierte, sozusagen instrumentalistische Begründungsmodelle, die, wenngleich in sehr verschiedener Weise, auf das aufgeklärte Selbstinteresse der Normadressaten bauen. Zweitens transzendentalphilosophische Begründungskonzeptionen.

Gegen instrumentalistische Modelle, klassisch etwa Hobbes' Kontraktualismus (Hobbes 1991/1561), kann man jedoch einwenden, daß ihre Verbindlichkeit stets mit der Richtigkeit von gewissen Hypothesen über die menschliche Natur, über individuelle Präferenzordnungen abhängt. Man mag darin naturrechtliche Restbestände sehen. So hängt die Überzeugungskraft des Hobbeschen Modells vom Vorliegen einer risikoaversiven Grundeinstellung ab, die beispielsweise aus der Perspektive eines überzeugten Nietzscheaners keineswegs zwingend erscheinen mag - ein Problem, das übrigens in bezug auf Rawls' Bevorzugung des Maximin-Prinzips in der Theory of Justice in ähnlicher Weise wiederkehrt. Zudem scheint das Problem der Möglichkeit von Trittbrettfahrern innerhalb instrumentalistischer Modelle auch durch Komplexitätssteigerung nicht lösbar. Drittens ist fraglich, ob der spezifische Verbindlichkeitssinn normativer Verpflichtungen mit ihrem Ursprung aus Selbstinteresse überhaupt vereinbar ist.

Eine andere Möglichkeit, innerhalb des instrumentalistischen Rahmens ethische Verpflichtungen zu begründen, führt zu einer Annäherung der Normethik an glücksethische Konzeptionen. Hier wird nicht mehr geleugnet, daß seitens der Normadressaten bestimmte personale Eigenschaften, Präferenzen oder Interessen vorliegen müssen. Auch wird nicht deren schlechthin universelle Verbreitung postuliert. Vielmehr wird nun der Zustand einer Person, die sich als moralische versteht, als ein attraktiver und erstrebenswerter Zustand beschrieben: Es ist gut für dich, moralisch zu sein (so in etwa Tugendhat 1993). Aber auch dies scheint, abgesehen von der geringen und kontextuell stark eingeschränkten Plausibilität des Argumentes, mit dem kategorischen Geltungssinn moralischer Normen kaum verträglich und bewirkt zudem nur eine Verschiebung des Problems der vorauszusetzenden Präferenzen.

Wie steht es daher mit transzendentalphilosophischen Begründungsversuchen in der Nachfolge Kants? Eine wichtige Pointe der kantischen Ethik kann man darin sehen, daß sie nicht, wie die instrumentalistischen Konzeptionen, an als unhintergehbar unterstellte vormoralische Präferenzen der Normadressaten lediglich anschließt, um von hier aus für die Attraktivität eines Systems wechselseitiger Verpflichtungen zu werben, sondern diese Präferenzen von vornherein in der präskriptiven Gestalt allgemeiner Handlungsmaximen aufnimmt, deren Vereinbarkeit mit der Autonomie der Normadressaten schließlich das Kriterium ihrer Moralität ausmacht - und in einer kritischen Reformulierung müßte man sagen: auch ihre Vereinbarkeit mit der Autonomie der Betroffenen, beziehungsweise der Autonomie der Argumentationsgemeinschaft. Autonomie wird dabei von Kant verstanden als die Fähigkeit, sich selbst zugleich als Adressat und als Gesetzgeber der moralischen Normen verstehen zu können. Das impliziert, nur solche Maximen als subjektive Prinzipien des eigenen Handelns zu akzeptieren, die als allgemeines Gesetz akzeptabel wären - und zwar, so müßte man in einer kritischen Reformulierung wiederum betonen, akzeptabel nicht nur für mich als einsames Handlungssubjekt, sondern für mich als gleichwertiges Mitglied einer unbegrenzten Gemeinschaft von Normadressaten und Normhandlungsbetroffenen, die sich zwanglos und argumentativ über die Richtigkeit der Normvorschläge zu verständigen sucht - ergo rational akzeptabel für uns.

Gelänge es, die Gleichursprünglichkeit von Willensfreiheit qua Autonomie einerseits und moralischer Verpflichtung andererseits auf überzeugende Weise aufzuzeigen, dann wäre eine rationale Auflösung des Begründungsproblems tatsächlich geleistet. Kant selbst hat dies jedoch nicht zuwege gebracht (vgl. Kants Rede von einem Faktum der Vernunft; Akad.-Ausg. V, 31, 42, 47, 55, 91, 104; hierzu Ilting 1994/1972), und etliche Bausteine der kantischen Konzeption, so beispielsweise die sogenannte Zwei-Reiche-Lehre und die sprachphilosophisch unreflektierte Konzeption des Erkenntnisvermögens, haben durch die besagte sprachpragmatische und hermeneutische Wende zusätzlich an Plausibilität verloren.

Trotzdem spricht meines Erachtens vieles dafür, daß der Versuch einer Rekonstruktion des transzendentalphilosophischen Begründungskonzepts lohnend sein könnte. Ich bin sogar der Ansicht, daß es gar keine sinnvolle Alternative zu diesem Versuch gibt. Ich möchte diese These durch zwei Argumente stützen. Das erste ist ein moralphilosophisches, genauer gesagt metaethisches Argument, das auf den methodologischen Status moralphilosophischer Begründungsversuche Bezug nimmt. Das zweite Argument ist ein allgemeines und altbekanntes begründungstheoretisches Argument.

Das erste Argument trage ich in Anlehnung an Wolfgang Kuhlmann vor. "Die Begründung der Geltung des Moralprinzips x, der Nachweis, daß x richtig ist", so schreibt Kuhlmann (1992c: 190 f.) "ist eine Aufgabe im Bereich der normativen Ethik, der im Bereich der theoretischen Disziplinen nicht die Aufgabe entspricht zu zeigen, daß eine bestimmte (z. B. wissenschaftliche) Aussage wahr ist. Ihr entspricht vielmehr die Aufgabe nachzuweisen, daß y der richtige Wahrheitsbegriff ist. Wir wollen ja bei der Begründung des Moralprinzips x nicht wissen, ob x [...] richtig im Sinne eines schon bekannten und verfügbaren Moralprinzips ist, so wie wir in der Wissenschaft wissen wollen, ob p wahr ist im Sinne eines allgemein akzeptierten Begriffs von Wahrheit. Dann wäre ja das schon bekannte und verfügbare Moralprinzip das eigentliche Prinzip, d. h. dasjenige, was eigentlich zu begründen wäre." Es geht also bei der Ethikbegründung um den Maßstab oder Standard normativer Richtigkeit selbst. Nun ist jedoch die Suche nach einem derartigen Maßstab in eigentümlicher Weise selbstbezüglich, weil man in irgendeiner vorreflexiven Weise schon wissen muß, was Wahrheit (beziehungsweise verbindliche normative Richtigkeit) ist, wenn man nach Maßstäben dafür sucht - sonst könnte man mit der Suche nicht einmal beginnen. Es kann daher hier nicht darum gehen, "den gesuchten Maßstab von Grund auf und als etwas ganz Neues, Überraschendes erst zu gewinnen, es kann nur darum gehen, das irgendwie schon Gewußte, Gehabte explizit begrifflich in Besitz zu nehmen, verfügbar zu machen und gegen skeptische Einwände in Schutz zu nehmen" (ebd. 191). Dies aber, der reflexive Aufweis von apriorischen Gehalten, ist offenbar eine transzendentalphilosophische Methode.

Das zweite Argument wird üblicherweise im Anschluß an Alberts begründungsskeptische These vom sogenannten "Münchhausen-Trilemma" (Albert 1980/1968: 8-28, v. a. 11-15) eingeführt. Nach Albert - der hier Einwände wiederholt, die bereits bei dem antiken Skeptiker Pyrrhon von Elis zu finden sind - nach Albert kann es keine wirklich zwingende Begründung geben, da jede Begründung auf Voraussetzungen aufbauen müsse, die ihrerseits prinzipiell fallibel seien und daher in Frage gestellt werden könnten. Alle Versuche einer zureichenden beziehungsweise voraussetzungslosen Begründung seien bei näherem Hinsehen als logisch unzulässig zu erweisen. Albert unterscheidet dabei drei Arten formal unzulässiger Argumentationsketten, den infiniten Regreß, den logischen Zirkel und den (dogmatischen) Abbruch des Begründungsverfahrens. Zum einen muß sich Albert jedoch fragen lassen, welchen Status seine Behauptung von der prinzipiellen Unmöglichkeit zureichender Begründungen selbst haben kann: Entweder ist sie selbst ebenfalls fallibel - dann kann nicht ausgeschlossen werden, daß eines Tages eben doch zureichend begründete Sätze auftreten. Oder es handelt sich um ein Exemplar einer Klasse von Behauptungen, die es dem Kritischen Rationalismus zufolge gar nicht geben soll, nämlich um eine infallible philosophische Wahrheit - dann müßte die These offenbar in einer Weise eingeschränkt werden, die ihre Selbstanwendung ausschließt (wie dies ja übrigens auch bei Peirce, der das Fallibilismusprinzip schon lange vor Popper formuliert hat, der Fall war; vgl. Peirce 1991/1877 u. a.; hierzu Apel 1975). Zum anderen leidet Alberts Argumentation selber an einem logischen Fehlschluß, nämlich an einer petitio principii. Wenn man nämlich davon ausgeht, daß Begründung nur deduktiv, also als Herleitung aus vorausgesetzten Prämissen, möglich ist, dann ergibt sich die skeptische Schlußfolgerung offenbar zwangsläufig, nämlich als analytische Wahrheit: Wenn die Begründung von Behauptungen als ihre formal logische Herleitung aus gegebenen Voraussetzungen definiert wird, dann ist eine voraussetzungslose und in diesem Sinne zureichende Begründung von vornherein, aus begrifflichen Gründen, unmöglich.

Die eigentlich interessante Frage ist also, ob es neben deduktiven Begründungsverfahren noch andere Begründungstypen gibt. Und hier kann man nicht umhin, an einen transzendentalen Begründungstypus zu denken, dessen Pointe im Aufzeigen des apriorischen Status gewisser Erkenntnisbedingungen, Geltungsbedingungen oder Sinnbedingungen liegt.

Ein Modell solcher Begründungen stammt bereits von Aristoteles. Er hat in Zusammenhang mit der Diskussion des Prinzips vom zu vermeidenden Widerspruch in der Metaphysik (1005b ff.) einen Begründungstyp eingeführt, den man heute als sinnkritisch oder, wenn man will, auch als transzendentalhermeneutisch bezeichnen könnte. Aristoteles spricht von einem widerlegenden Beweis im Gegensatz zu einfachen (deduktiven) Beweis. Wer etwas durch einen widerlegenden Beweis rechtfertigen will, muß aufzeigen, daß das Bestreiten oder Bezweifeln dessen, was bewiesen werden soll, mit den notwendigen Bedingungen sinnvollen Bezweifelns oder Bestreitens unvereinbar und somit sinnlos ist. So läßt sich Aristoteles zufolge das Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch durch den Nachweis begründen, daß derjenige, der das Prinzip bestreitet, es doch zugleich voraussetzen muß, wenn wir seine Äußerung als Diskussionsbeitrag überhaupt verstehen können sollen. Im Hintergrund steht dabei die Überzeugung, daß, wer immer überhaupt etwas Sinnvolles äußert, damit etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen müsse. Wer aber etwas äußere, dessen Bestimmtheit er sofort wieder negiere, indem er das Gegenteil des zuvor Geäußerten für gleichzeitig und in der gleichen Hinsicht möglich erkläre, der äußere gar nichts Verständliches mehr, weil er durch das, was er behauptet, "die Rede aufhebt" (1006a) - heute würden wir sagen: die Sinnbedingungen von Behauptungen überhaupt und damit auch seiner eigenen Behauptung zerstört.

Nun ist zuzugestehen, daß Aristoteles' Explikation des transzendentalhermeneutischen Arguments eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich bringt, weil unklar ist, inwieweit dieses Argument nicht implizit doch wieder eine deduktive Struktur aufweist (vgl. Ros 1990: Bd. I, 196 ff.). Zweitens ist keineswegs ausgemacht, daß der von Aristoteles präfigurierte sinnkritische Begründungstypus sich über die Begründung von Axiomen des theoretischen Denkens hinaus auch für die Begründung der Verbindlichkeit moralisch-praktischer Prinzipien nutzbar machen läßt.

Möglicherweise hat jedoch die sogenannte sprachpragmatische Wende, insbesondere durch die Sprechakttheorien Austins und Searles und zumal durch Searles Prinzip der Ausdrückbarkeit, die Bedingungen für einen erfolgreichen Versuch in dieser Richtung entscheidend verbessert. Wenn es nämlich stimmt, daß die Bedeutung sprachlicher Äußerungen nicht von der pragmatischen Dimension des Äußerns, des Akzeptierens oder Zurückweisens abgelöst werden kann, in der sie qua Sprechakte beheimatet sind, dann erscheint auch die Existenz und Aufweisbarkeit pragmatischer Konsistenzbedingungen von Sprechakten als denkbar - und damit vielleicht auch die Möglichkeit einer transzendentalpragmatischen beziehungsweise transzendentalhermeneutischen Begründung von Konsistenzkriterien sinnvollen und verständlichen Redens, die einen praktischen Geltungssinn haben und daher vielleicht auch ethisch gehaltvoll sind. Zum anderen lassen sich die Spezifika des von Aristoteles entwickelten Begründungstypus genauer herausarbeiten und gegen Einwände verteidigen, die darin eine implizite Deduktion vermuten.

Dies versuchen jedenfalls Karl-Otto Apel und seine Schüler, von denen neben Wolfgang Kuhlmann (1985) vor allem Dietrich Böhler (1985) und Audun Øfsti (1994) zu erwähnen sind. Ihr Anliegen ist es, die kantische Transzendentalphilosophie in eine transzendentalpragmatische und transzendentalhermeneutische Philosophie zu transformieren beziehungsweise 'aufzuheben'.

Ohne das gesamte Programm einer transzendentalpragmatischen Ethikbegründung entfalten zu können, möchte ich seine wichtigsten Merkmale kurz umreißen.

Wie die kantische, so geht auch die erneuerte Transzendentalphilosophie davon aus, daß das Vermögen zur freien Selbstbestimmung mit der Übernahme moralisch gehaltvoller Verpflichtungen gleichursprünglich ist. Kant hatte, vermittels seines Maximenbegriffs, Autonomie als ein Vermögen der Orientierung an (und Formulierung von) Prinzipien konzipiert; Autonomie impliziert demnach die Fähigkeit des Regelverstehens und des intentionalen Regelfolgens (so nebenbei auch noch Schnädelbach 1998). Hierin folgt ihm die Transzendentalpragmatik (vgl. allerdings die Präzisierungen in Böhler 1985: Kapitel IV, 3 und IV, 4). Sie nimmt jedoch an, daß das Scheitern von Kants Begründungsversuch damit zusammenhängt, daß er seine transzendentale Analyse nicht auf die Bedingungen des Regelverstehens und Regelfolgens ausgedehnt hat, das sie unter Berufung auf Wittgenstein (1971/1953) als eine irreduzibel soziale, intersubjektive Praxis verstanden wissen will; zudem jedoch als eine, die in einem komplexeren Sinn als von Wittgenstein angenommen mit sprachlichen Kompetenzen verwoben ist, insofern die Möglichkeit einer sprachlichen Explikation der Handlungspraxis als notwendige Bedingung von Intentionalität und damit auch des Regelfolgens unterstellt wird (hierzu die ersten sechs Beiträge in Øfsti 1994 und 1994b; vgl. die Würdigung in Rähme/Werner 1997). Dies zusammengenommen mit der pragmatischen Analyse sprachlicher Bedeutung impliziert, daß Handelnde mit ihren Handelnden stets Geltungsansprüche verbinden, die sich an alle Mitglieder einer unbeschränkten Interpretations- und Argumentationsgemeinschaft richten. Diese Behauptung läßt sich transzendentalhermeneutisch einholen: Um Handlungen überhaupt identifizieren, sie also zum Beispiel auch gegen regelhafte Naturprozesse abgrenzen zu können, müssen wir unterstellen, daß wir es mit Akteuren zu tun haben, die mit ihrer Handlungsweise Geltungsansprüche verbinden, da zum Konzept von "Handeln" notwendig die Möglichkeit des Scheiterns oder Gelingens gehört. Wer jedoch Geltungsansprüche erhebt, erkennt implizit den unbegrenzten argumentativen Diskurs als Instanz der kritischen Prüfung, der Einlösung oder Zurückweisung von Geltungsansprüchen an. Geltungsansprüche richten sich per definitionem an alle Mitglieder der Argumentationsgemeinschaft, das heißt an alle Vernunftwesen. Das besagt im Grunde nichts anderes als: Wer handelt, tut etwas, was sich in verschiedener Perspektive kritisieren läßt; Kritisierbarkeit ist der Handlung jedoch nichts äußerliches, sondern für den Handlungscharakter konstitutiv. Kritik ist ihrem Sinn nach aber eine inklusive und uneingeschränkt offene Praxis, da sich der Wert argumentativer Beiträge nur an ihrer Stichhaltigkeit bemißt und im Prinzip unabhängig ist von der Person, die sie äußert, vom Zeitpunkt oder Ort, an dem sie vorgetragen wird. Mit ihren Handlungen erheben Handelnde daher stets den Anspruch, daß ihre Handlungen sich in einem unbeschränkten argumentativen Diskurs gegen alle kritischen Einwände rechtfertigen lassen.

Wenn es jedoch stimmt, daß, wer immer handelt, den unbegrenzten argumentativen Diskurs als Geltungs- und Kritikinstanz der eigenen Handlungen notwendig anerkennen muß oder besser, wie die Transzendentalpragmatiker mit Vorliebe unter Verwendung des von Heidegger in die Philosophie eingeführten "apriorischen Perfekts" formulieren, diese Instanz immer schon anerkannt hat, dann hat dies auch praktisch-normative Konsequenzen. Das läßt sich dadurch illustrieren, daß bestimmte Handlungsweisen sich als prima facie unvereinbar mit den Bedingungen ihrer diskursiven Rechtfertigbarkeit erweisen lassen. Bereits Kant hat diese Intuition in seiner Schrift zum ewigen Frieden in gewisser Weise im Blick gehabt, wo er als Kriterium der Moralität politischer Maßnahmen ihre Vereinbarkeit mit den Bedingungen der Publizität eingeführt hat (Kant 1968: VIII, 384 ff.; man darf freilich die Unterschiede zwischen bloßer Publizität und unbegrenzter argumentativer Zustimmungsfähigkeit nicht verkennen). Lügnerische, diskriminierende oder gewalttätige Handlungsweisen sind solche, die ihrer Struktur nach von vornherein die kommunikativen Bedingungen ihrer Rechtfertigbarkeit verletzen und daher prima facie als unmoralisch qualifiziert werden können (die verantwortungsethische Rechtfertigbarkeit unter Umständen auch solcher Handlungsweisen ist ein Folgeproblem, das sich erst im Anschluß an diese Einsicht formulieren läßt).

Falls dieses, hier natürlich nur grob umrissene, Begründungskonzept tragfähig sein sollte, dann ließe sich zeigen, daß folgendes diskursethische Moralprinzip uneingeschränkt gültig, weil schlechthin nicht sinnvoll bestreitbar ist:

"Bemühe Dich in Deinem Handeln um eine Handlungsweise, die Du gegenüber allen Einwänden argumentativ rechtfertigen kannst, von wem auch immer sie vorgebracht werden!"

Dieses Moralprinzip ist, so behaupte ich, universell gültig und kann auch durch den Verweis auf den Pluralismus von Lebenswelten, Kulturen oder Sprachen nicht in seiner Gültigkeit beschränkt werden. Denn jede derartige Kritik - und zumal aus hermeneutischer Richtung steht hier eine große Zahl kritischer Einwände zu erwarten beziehungsweise ist von dort, etwa von Albrecht Wellmer, bereits vorgetragen worden (vgl. Wellmer 1986: 51-113; 1992) - jede derartige Kritik muß einen auch für uns verständlichen und konsistenten Begriff fremder Kulturen, Lebenswelten oder Sprachsysteme zugrunde legen. Wenn daher das diskursethische Moralprinzip, wie ich vermute, auf der Ebene von strikt transzendentalhermeneutischen Bedingungen der Verständlichkeit fremder Kulturen, Lebenswelten oder Sprachen überhaupt, beispielsweise unverzichtbaren Bedingungen ihrer Identifizierbarkeit als Kulturen, Lebenswelten oder Sprachen begründet werden könnte, dann müßte es auch gelingen, jede hermeneutische Kritik sinnkritisch zu unterlaufen.

Nun will ich aber, nachdem ich schon zu lange monologisiert habe, dieser Kritik selbst das Wort geben.



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