Zurück




Werner, Micha H. (2005):

Ethik als Rekonstruktion von (welcher?) Moral?

Eine zitierfähige Fassung ist erschienen: Kellerwessel, Wulf / Cramm, Wolf-Jürgen / Krause, David et al. (Hg.): Diskurs und Reflexion: Wolfgang Kuhlmann zum 65. Geburtstag. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 215-237. Eine PDF-Version findet sich hier


1.    Ethik als philosophische Theorie der Moral

Ethik wurde von Cicero als Philosophie der Moral besticmmt (Cicero 1963: 6f. [De fato, 1.1]). Auch gegenwärtig wird sie meist als philosophische ‘Theorie der Moral’ definiert.[1] Ethik scheint daher einer genauen Explikation ihres ‘Gegenstands’ Moral zu bedürfen, um ihre Aufgaben eingrenzen und ihr Selbstverständnis klären zu können (vgl. Warnock 1967: 52). Zu Ciceros Zeiten dürfte diese Aufgabe leichter zu bewältigen gewesen sein als in der Gegenwart. Die lateinischen Vokabeln „mos“ und das davon abgeleitete „moralis“ hatten nicht jene Mehrdeutigkeit, die der Moralbegriff inzwischen angesammelt hat. Zwar deckt sich die Bedeutung von „mos“ auch noch mit einer Bedeutung des heutigen Begriff der Moral, „nämlich als der Gesamtheit der akzeptierten und durch Tradierung stabilisierten Verhaltensnormen einer Gesellschaft“ (Jüssen 1984: 150).[2] Daneben haben sich jedoch Verwendungsweisen eingebürgert, in denen der Moralbegriff in deutlich engerer Bedeutung verstanden wird.[3] Moral wird kaum mehr als Gesamtheit der Verhaltensnormen oder gar ‘Gewohnheiten’ verstanden, sondern eher als eine Teilmenge davon. Damit in Zusammenhang steht eine Tendenz zur Verinnerlichung. „Mos“ war primär auf den Außenaspekt des Verhaltens bezogen und konnte daher auch als Bezeichnung für nichtmenschliche Naturvorgänge dienen. Heute wird der Moralbegriff nur dort verwandt, wo die Verhaltensorientierungen und Verhaltenserwartungen eines Moralsubjekts dessen subjektive Überzeugungen von der Gültigkeit gewisser Regeln, Normen oder Prinzipien zum Ausdruck bringen. Diese Tendenz kulminiert in der ‘Gesinnungsethik’ Kants, so daß Hegel sich veranlaßt sehen kann, der Gesinnungsmoral mit dem Konzept der „Sittlichkeit“ eben dasjenige gegenüberzustellen, was früher selbst mit dem Begriff „mos“ bezeichnet worden war.[4]

Mit der Verinnerlichung geht einher, daß Moral als etwas verstanden wird, das intern reflexiv verfaßt, nämlich mit einer Reflexion auf Handlungen, Normen, Institutionen u.a. verbunden ist. Hieraus resultieren Schwierigkeiten für das Selbstverständnis der Ethik als einer Disziplin, die sich als Reflexion auf diesen schon intern reflexiv verfaßten Gegenstand konstituieren will.[5] Diese Schwierigkeiten werden sichtbar, wenn etwa Dieter Birnbacher in seiner Analytischen Einführung in die Ethik letztere als „ein theoretisches und speziell philosophisches Meta-Sprachspiel“ beschreibt, „das eigenen Regeln“ gehorche, und deren Aufgabe – wie Birnbacher in Anlehnung an Bernard Gert formuliert – wie folgt zu bestimmen sei:

„Die Rolle des Ethikers oder Moralphilosophen besteht nicht primär darin, das Sprachspiel der Moral selbst zu spielen, d.h. den Regeln dieses Sprachspiels gemäß zu urteilen und zu bewerten, sondern primär darin, das Sprachspiel der Moral von einem außerhalb des Sprachspiels gelegenen Standpunkt zu beschreiben und möglicherweise zu begründen.“ (Birnbacher 2003: 2 f., vgl. auch 4 ff.)

Im Verlauf seiner Sachanalysen scheint Birnbacher jedoch von dem Ideal einer klaren Trennung zwischen Ethik (qua ‘Theorie’) und Moral (qua ‘Gegenstand’) wieder abzurücken:

„Nach Begründungen moralischer Bewertungen und Normen zu fragen und diese Begründungen auf Verlangen zu liefern, ist ja nicht nur eine Sache der Moralphilosophie, sondern ebenso eine Sache der Moral selbst. Moral und Ethik sind durch keine scharfe Linie voneinander abgegrenzt, sondern gehen kontinuierlich ineinander über.“ (Birnbacher 2003: 114 f.)

Eine ähnliche Ambivalenz zeigt sich in Anton Leists Die gute Handlung. Einerseits definiert er den Unterschied zwischen Moral und Ethik zunächst wie folgt: „»Moral« ist die Bezeichnung für eine bestimmte soziale Realität, »Ethik« hingegen der Titel für eine Disziplin oder Theorie von dieser Realität“ (Leist 2000, S. 2). „Moral und Ethik“ seien folglich

„als zwei zu unterscheidende Realitäten zu verstehen, nach dem Muster Gegenstand-Wissen oder Thema-Theorie. Danach reflektieren wir im Alltag zwar über die Moral, aber nicht unbedingt ethisch. Ethik wäre der Versuch einer umfassenden Systematisierung, wie er nur in der Moralphilosophie üblich ist, und dazu muß man aus dem Alltag heraustreten.“ (Leist 2000: 3)

In anderem Zusammenhang heißt es dann: „Aber eben, der Übergang von der Moral zur Ethik ist fließend, auch im Alltag begründen wir unser Tun […]“ (Leist 2000: 11).

Nun soll keineswegs behauptet werden, daß nicht gerade mit solchen ambivalenten Beschreibungen ein wesentliches Spezifikum der Ethik – im Vergleich zu anderen ‘Theorien’ – getroffen wäre. Im Gegenteil: als Theorie eines schon intern verstehensvermittelten, schon intern auf Urteile, Gründe und Argumentationszusammenhänge bezogenen ‘Gegenstandes’ muß sie sich von anderen „Theorien“ abheben. Gleichwohl erscheint, angesichts so deutlich kontrastierender Beschreibungen des Verhältnisses zwischen Ethik und Moral, eine Klärung angezeigt. Schließlich gehen wir normalerweise nicht davon aus, daß eine Theorie in ihren Gegenstand oder der Gegenstand in die Theorie übergeht. Und mit dem Bild eines ‘eigenen Sprachspiels’ der Ethik oder ihres ‘Heraustretens’ aus dem Kontext der Moral wäre dies auch letztlich nicht vereinbar. Jene Vorstellung, wonach Ethik sich gewissermaßen der Moral gegenüber aufstellen und sie gleichsam von außen in den Blick nehmen muß, würde einem positivistischen Wissenschaftsideal entsprechen. Die Aufgabe einer ‘neutralen’ Explikation der Moral wäre dann klar von der Aufgabe der Moralbegründung zu unterscheiden und ihr systematisch vorgeordnet. Bei Émile Durkheim ist dieses Forschungsprogramm klar formuliert:

„Die moralische Wirklichkeit kann wie jede Art der Wirklichkeit von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus untersucht werden. Man kann sie erkennen und verstehen wollen oder sich vornehmen, sie zu beurteilen. Das erste dieser Probleme, das rein theoretisch ist, muß dem zweiten notwendig vorausgehen“. (Durkheim 1967: 84)

Indes ist keineswegs klar, daß sich diese Perspektive eines positivistischen Soziologen auch Theoretiker zu eigen machen müßten, die sich im hermeneutisch aufgeklärten Kontext der Gegenwartsphilosophie um eine Explikation der Moral bemühen. Der Versuch einer klaren Trennung zwischen vermeintlich neutraler Moralexplikation und vermeintlich allererst normativer Moralbegründung wird jedoch auch noch in aktuellen Ansätzen der Moralphilosophie unternommen. Der Neutralitätsanspruch der Metaethik, der insgesamt stark an Glaubwürdigkeit verloren hat (vgl. Williams 1998: 73), scheint hier kaum gebrochen.

Ich möchte nun zunächst am Beispiel von Bernard Gerts Morality: Its Nature and Justification einige Probleme aufzeigen, die mit dem Versuch einer sozusagen ‘normativ unschuldigen’ Rekonstruktion des ‘Gegenstands’ Moral verbunden sind. Dabei wird sich erweisen, daß dieser Versuch nicht zuletzt an dem Umstand scheitert, daß wir schon eine Definition oder wenigstens einen Vorbegriff des Moralischen benötigen, um mit der Rekonstruktion überhaupt beginnen zu können (2). Im Anschluß möchte ich zwei komplementäre Vorschläge zur Lösung des Definitionsproblems diskutieren: zum einen den Versuch einer ‘rein empirisch-hermeneutischen’ Ermittlung des alltäglichen Wortgebrauchs (3.1.); zum anderen den Rückzug auf eine theorieadäquate Nominaldefinition des Moralbegriffs (3.2). Schließlich möchte ich die Frage diskutieren, ob und in welchem Sinn die Diskursethik als ‘Rekonstruktion der Moral’ verstanden werden könnte und welcher Moralbegriff dabei zugrunde zu legen wäre (4).

2.    Ethik als Rekonstruktion der Common-sense-Moral?

Gert hat sich so ausführlich wie kaum ein anderer um eine Explikation der (‘Natur’ der) Moral bemüht. Moralphilosophie, so formuliert er, „should make explicit, explain, and, if possible, justify morality or the moral system. It must provide an explicit account of morality, including its variations“ (Gert 1998: 6). Die erfolgreiche Explikation der Moral sei dabei „the first step in the attempt to justify it“ (Gert 1998: 18). Der moralphilosophischen Tradition wirft Gert vor, die Explikationsaufgabe nicht ernst genommen zu haben. Normative Ethiken seien in der Regel abstrakte Konstruktionen, nicht jedoch adäquate Rekonstruktionen dessen, was Gert common morality nennt, nämlich des Bestandes unserer weitgehend einheitlichen, weithin anerkannten Moral. Vor allem sei selbst in den avanciertesten Ansätzen der Normativen Ethik nicht klar zwischen der Aufgabe der Explikation von Moral und der Aufgabe der Begründung von Moral unterschieden worden (vgl. Gert 1998: 6). Eine Konfusion von Moralexplikation und Moralrechtfertigung muß jedoch in der Tat problematisch erscheinen, wenn man Ethik als Theorie von einem von ihr unterschiedenen Gegenstand Moral versteht. Zum einen droht ja das Bild der Moral normativistisch verzerrt zu werden, wenn sie von vornherein durch die Brille bestimmter normativer oder wertender Vorannahmen betrachtet wird. Zum anderen droht die Gefahr naturalistischer bzw. kryptonaturalistischer Fehlschlüsse, wenn die Begründbarkeit ethischer Norm- oder Werturteile durch die Darstellung der faktischen Moral präjudiziert wird. Gert plädiert daher für eine Trennung der Explikations- von der Rechtfertigungsaufgabe. Er ist zuversichtlich, mit seiner eigenen Rekonstruktion die Strukturen der common morality adäquat, ohne theoriebedingte Verzerrungen, erfaßt zu haben. Seine Definition von „Morality“ lautet wie folgt:

„Morality is an informal public system applying to all rational persons, governing behavior that affects others, and includes what are commonly known as the moral rules, ideals and virtues and has the lessening of evil and harm as its goal.“ (Gert 1998: 13, 26, im Original kursiv)

Nun liegt es nahe zu fragen: Woher weiß Gert, daß seine Definition das Wesen der Moral tatsächlich trifft? Gerts Antwort auf diese zentrale Frage ist keineswegs klar. Einerseits schlägt er die vortheoretische Urteilskompetenz der Moralsubjekte selbst als Prüfstein der Moraltheorie vor. Als rekonstruktive Disziplin sei Moraltheorie der Theorie der Grammatik zu vergleichen (vgl. Gert 1998: 4 f.). Wie eine Theorie der Grammatik müsse Moraltheorie das implizite moralische Know-how der Akteure theoretisch nachkonstruieren. Ob eine solche Rekonstruktion gelungen ist, läßt sich freilich nur insoweit klären, wie das moralische Alltagswissen seinerseits klar und unstrittig ist. Gert ist daher bemüht, die Gemeinsamkeiten im moralischen Alltagswissen hervorzuheben. (Gert 1998: 38) Vor diesem Hintergrund betont er die faktische Konsensfähigkeit seines eigenen Rekonstruktionsvorschlags. Für dessen einzelne Elemente beansprucht er wiederholt, daß sie ‘kaum jemand bestreite’ (Gert 1998: 8), daß sie ‘so offensichtlich seien, daß es kaum nötig sei, sie auszusprechen’ (Gert 1998: 22) etc. Der common sense ist Gerts wichtigste Berufungsinstanz. Andererseits kann Gert Dissense im Moralverständnis nicht ganz leugnen. Schließlich wäre er sonst nicht genötigt, für seine Position zu argumentieren. So ist Gerts Moraldefinition unverträglich mit allen nicht-universalistischen Moralformen, beispielsweise partikularistischen Stammesmoralen. Sie widerspricht der Behauptung, daß moralische Verpflichtungen gegenüber der eigenen Person existieren (vgl. Gert 1998: 12). Überdies optiert Gert gegen die von Kantianern ebenso wie von Richard M. Hare vertretene Auffassung, daß moralische Gesichtspunkte der Handlungsorientierung prinzipiell vorrangig (‘overriding’) gegenüber anderen Gesichtspunkten seien (vgl. u.a. Hare 1992: 102 ff.; hierzu Gert 1998: 10, 313 f. u.a.). Schließlich wendet er sich gegen die These, daß Moral auf Nutzenmaximierung ziele und nicht lediglich auf die Minimierung von Übeln. In letzterem Zusammenhang richtet er sich sogar explizit gegen Auffassungen, die seiner eigenen Einschätzung nach ‘allgemein’ („commonly“) vertreten werden (Gert 1998: 14, vgl. 9). Auch Gert kann also nicht alle seiner Ausführungen auf den common sense stützten – zumindest nicht unmittelbar. Auch er muß das Problem faktischer Moraldissense bewältigen. Er versucht dies mittels dreier Strategien.

Die erste Strategie ist im Vergleich von Moral und Grammatik schon angedeutet: Gert sucht die Einheitlichkeit und Kohärenz des impliziten Handlungswissens moralischer Akteure gegen die Konstrukte der Moraltheoretiker auszuspielen. Das Gros der Unstimmigkeiten liege nicht bei den moralischen Akteuren, sondern bei den philosophischen Rekonstrukteuren. Diese Argumentation wirkt eigentümlich vertraut. Auch der von Gert kritisierte Kant hatte ja mit seiner Moraltheorie „das praktische Beurteilungsvermögen […] im gemeinen Menschenverstande“ gegen die Irrtümer der falschen Moraltheoretiker in Schutz nehmen wollen: Der „gemeine Verstand“ könne sich in moralischen Fragen „eben so gut Hoffnung machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Philosoph versprechen mag“, er sei „sogar noch sicherer hierin, als […] der letztere, weil dieser doch kein anderes Princip als jener haben, sein Urteil aber durch eine Menge fremder, nicht zur Sache gehöriger Erwägungen leicht verwirren und von der geraden Richtung abweichend machen kann.“ (Kant 1968: Bd. IV, 404 [GMS, Akad.-Ausg.]) In der Nachfolge Kants ist Jürgen Habermas sogar noch eine schärfere Formulierung unterlaufen. „Die moralischen Alltagsintuitionen“, so Habermas, „bedürfen der Aufklärung des Philosophen nicht. […] Die philosophische Ethik hat eine aufklärende Funktion allenfalls gegenüber den Verwirrungen, die sie selbst im Bewußtsein der Gebildeten angerichtet hat“ (Habermas 1983: 108). Gegen solche Einschätzungen läßt sich freilich einiges einwenden: „Besteht“, so läßt sich mit Wolfgang Kuhlmann fragen, „zwischen Sittlichkeit und philosophischer Rekonstruktion tatsächlich nur das Verhältnis zwischen nachträglicher Abbildung und dem Abgebildeten selbst, welches schon vor aller Abbildung und unabhängig von dieser fertig da und auch wirksam ist […]?“ (Kuhlmann 1986: 198). Daß das kulturelle Erbe der moralphilosophischen Tradition gar keinen Einfluß auf das Moralbewußtsein der Akteure gehabt haben soll, erscheint ebenso unwahrscheinlich wie die Annahme, dieser Einfluß sei ausschließlich negativ gewesen. Aber was immer sich für oder gegen die Formulierungen von Kant und Habermas anführen läßt, sie machen zumindest eines deutlich: Gert steht mit seinem Anliegen, das moralische Know-how ‘normaler’ Akteure besser zu treffen als die Philosophen vor ihm, keinesfalls allein. Desto weniger läßt sich die Frage abweisen, welche Gründe er für die Annahme aufbieten kann, daß er mehr Erfolg gehabt hat als seine Vorgänger.

Die Parteinahme für das implizite Praxiswissen ‘normaler’ Akteure ist indes nicht Gerts einzige Antwort auf das Problem realer Moraldissense. Er konzediert, daß auch in praktischen Alltagsdiskussionen Dissense auftreten können. In einer zweiten Reaktion auf das Dissensproblem beschränkt er deshalb seine Rekonstruktionsbemühung auf den seines Erachtens unstrittigen Kernbereich der Handlungsnormierung. Gert sieht darin indes keine Grenze seiner Rekonstruktion, sondern eine Grenze der common morality selbst. Diese biete nicht auf alle strittigen Fragen der Handlungsorientierung definitive Antworten: „Clarifying morality cannot settle all moral disputes, because common morality allows for some disagreement.“ (Gert 1998: 12) Diese Auskunft ist nicht deshalb problematisch, weil Gert sich weigert, definitive Antworten auf alle strittigen Fragen der Handlungsorientierung zu geben. Problematisch erscheint jedoch, daß die ausgeklammerten Kontroversen im Rahmen seiner Rekonstruktion nicht einmal mehr als moralische Kontroversen begriffen werden können. Der Weg in Richtung moralischer Lernprozesse wird damit sozusagen begrifflich abgeschnitten. Vor allem aber stellt sich auch hier wieder die Frage, welche Argumente Gert für die Annahme anführen kann, mit seiner Moralexplikation die common morality tatsächlich getroffen zu haben. Diese Annahme muß er ja verteidigen, um behaupten zu können, daß die Einschränkung derjenigen Problemfelder, auf die seine Moraltheorie eindeutige Antworten zuläßt, tatsächlich einer objektiven Grenze der Moral selbst korrespondiert.

Hier spielt nun Gerts dritte und wichtigste Reaktion auf das Faktum moralischer Dissense eine Rolle: Letztlich soll der common sense der moralischen Akteure doch nicht der einzige Prüfstein moraltheoretischer Rekonstruktionen sein – jedenfalls nicht direkt. Gert gesteht zu, es sei prinzipiell möglich, daß sich moralische Akteure – sogar mehrheitlich – über die Gültigkeit einzelner Elemente des moralischen Systems täuschen:

„Morality, however, is correctly regarded as rational in a sense that grammar is not. It is perfectly acceptable to explain what looks like a pointless grammatical rule by citing its historical development. That is not true for morality; every feature of morality must serve a purpose. If some feature of morality comes to be regarded as not serving a rational purpose, it ceases to be regarded as a genuine feature of morality. Thus it is logically possible, though extremely unlikely, for everyone to be mistaken about a particular feature of morality and consequently for a universally accepted judgment to be incorrect.“ (Gert 1998: 5)

Moraltheorie kann sich daher nicht völlig auf die Nachkonstruktion des moralischen Know-how beschränken. Gegebenenfalls müßte sie auch in ein kritisches Verhältnis zum moralischen Alltagswissen treten, wobei eine moralisch gehaltvolle Konzeption der Rationalität die Basis dieser Kritik darstellen soll.[6] Beschwört Gert mit dieser Relativierung der kriteriologischen Bedeutung der moralischen Alltagspraxis nun aber nicht jene Gefahr einer normativistischen Verzerrung der Moralexplikation herauf, vor der er selbst so eindringlich gewarnt hat? Gert könnte entgegnen, daß die Verknüpfung von Moral und Rationalität nicht von außen an die Moral herangetragen werde. Sie offenbare sich vielmehr gerade bei der explikatorischen Erschließung der faktischen Moral. Gerade insofern sei mit der erfolgreichen Explikation der Moral schon ‘der erste Schritt’ zu ihrer Begründung getan. Denn einige der Merkmale des explizierten Moralbegriffs (so beispielsweise der Adressatenuniversalismus) korrespondierten mit Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit – qua universeller Akzeptierbarkeit (vgl. Gert 1998: S. 18). Wenn man diese Entgegnung indes für überzeugend hält, so ist man noch nicht der Besorgnis ledig, daß Gert sich bei der Explikation des Rationalitätsbegriffs Probleme ganz analog jenen einhandeln könnte, die sich im Kontext der Moralexplikation gezeigt haben. Grob gefragt: Dient das Rationalitätskonzept nicht lediglich als eine Art Verschiebebahnhof für das im Kontext der Moralexplikation offen gebliebene Kriterienproblem – die Frage nämlich, worin Gerts Kriterium für eine erfolgreiche Explikation der common morality besteht? Ich kann an dieser Stelle Gerts ‘komplexes’ und ‘hybrides’ (Gert 1998: 59) Rationalitätskonzept nicht näher untersuchen (vgl. hierzu detailliert Kellerwessel 2003: 357-379). Mir scheint jedoch, daß das methodologische Kardinalproblem der Moralexplikation bei der Entfaltung des Rationalitätsbegriff tatsächlich mutatis mutandis wiederkehrt. Wieder sucht Gert alle Elemente seines Rationalitätskonzepts auf den common sense zu stützen. Wieder betont er, daß sie „clear“ (Gert 1998: 49), „uncontroversial“ oder „not at all controversial“ (Gert 1998: 46) und gegensätzliche Auffassungen „obviously mistaken“ (Gert 1998: 42) seien.[7] Wieder kann er gleichwohl nicht leugnen, daß abweichende Auffassungen und Begriffsverwendungen existieren (Gert 1998: 40 ff.) und muß zugestehen, daß seine eigenen begrifflichen Weichenstellungen keineswegs zwingend sind: Die für seine Rationalitätskonzeption entscheidende Liste irrationaler Wünsche sei auch in dem Sinne „fundamental“, daß sie selbst keiner weiteren Rechtfertigung mehr zugänglich sei (Gert 1998: 51). Dasselbe gelte für die Liste der Gründe, die anderenfalls irrationale Handlungen gegebenenfalls rechtfertigen können: „I have no arguments to support my claim“ (Gert 1998: 56; vgl. Kettner 2002a).[8]

Welches sind die Gründe für die Schwierigkeiten von Gerts rekonstruktiver Ethik?

Erstens verspricht sich Gert ungewöhnlich viel von der Methode der Rekonstruktion des ‘vorfindlichen’ common sense. Zwar ist der Vergleich der Moraltheorie mit der Theorie der Grammatik schon bei Rawls zu finden (vgl. Rawls 1971: 47, 49f., 491). Wie Norman Daniels feststellt, geht die von Rawls entwickelte Konzeption des wide reflective equilibrium aber über eine bloße Rekonstruktion nach dem Modell der generativen Grammatik deutlich hinaus; allenfalls das Konzept des narrow reflective equilibrium werde durch den Vergleich adäquat erfaßt (Vgl. Daniels 1996: 66 ff.). Daniels führt weiter aus:

„Characterizing a person’s syntactic competency by formulating a grammar that accounts for it may be the main task of descriptive syntactic theory, but determining that a person’s moral competency is characterized by a particular set of principles is not the main task of moral philosophy. To be sure, moral philosophy must formulate precise statements of different moral conceptions. But it also must face the task of choosing between competing moral conceptions, of solving the problems of justification and theory acceptance in the moral domain.“ (Daniels 1996: 66)[9]

Gerts Zugeständnis, es sei „logically possible, though extremely unlikely“, daß allgemein anerkannte Moralurteile falsch seien, ist in diesem Zusammenhang noch schwächer, als die Formulierung erkennen läßt. Denn zwar führt Gert neben der Übereinstimmung mit unserer ‘gemeinsamen Moralpraxis’ noch ein zweites Explikationskriterium ein, nämlich die Kohärenz mit einem – seinerseits moralisch gehaltvollen – Rationalitätskonzept. Aber die Methode, mit der Gert dieses Rationalitätskonzept rechtfertigen will, ist letztlich von derselben Art und weist daher dieselben Probleme auf wie die Rekonstruktion der Moralpraxis selbst, so daß durch den Nachweis der Kohärenz beider Konzepte wenig gewonnen scheint.[10]

Zweitens erscheint Gerts Versuch, Dissensbereiche aus der Rekonstruktion auszuklammern, wenig hilfreich. Denn damit werden zum einen gerade jene Bereiche ausgeklammert, derentwegen die Beschäftigung mit Moralphilosophie überhaupt praktisch relevant ist (vgl. Kettner 2002a). Wenn Normative Ethik nur dasjenige zu rechtfertigen vermag, was ohnehin nicht in Frage steht, ist sie eine müßige Beschäftigung. Zum anderen ist die Strategie der Ausgrenzung von Dissensbereichen als Versuch, normative Neutralität zu wahren, ohnehin ungeeignet. Denn aus der Sicht der Moral ist die Grenze zwischen dem Moralischen und dem Nichtmoralischen selbst eine moralische Grenze. Aus der Sicht der Moral (oder jedenfalls der meisten ‘Moralen’) fällt ja der Bereich des Nichtmoralischen unter die Kategorie des moralisch Indifferenten und ergo, sofern das Nichtmoralische eine Handlung ist, unter die Kategorie des moralisch Erlaubten und nicht moralisch Gebotenen. Wenn Bernard Gert etwa behauptet, daß Handlungen, die nur den Akteur betreffen, kein Gegenstand moralischer Beurteilung sind, so impliziert dies das moralische Urteil, daß solche Handlungen erlaubt sind und daß sie nicht geboten sind. Ganz gleich wie gut begründet dieses Urteil sein mag, es hat in jedem Falle eine normative Bedeutung.

Drittens könnte man sagen, daß Gerts Versuch einer Rekonstruktion der Moral an einem Problem laboriert, auf das schon Durkheim aufmerksam gemacht hat: dem Problem nämlich, daß wir zweifellos bereits eine Definition – oder wenigstens einen Vorbegriff (vgl. Gadamer 1960: 252 ff. u.a.) – des Untersuchungsgegenstands ‘Moral’ brauchen, bevor wir mit seiner ‘empirischen’ Untersuchung überhaupt beginnen können. Unmittelbar nach der bereits zitierten Passage, in der Durkheim für die empirische Moralforschung Priorität beansprucht, führt er aus:

„Um die moralische Wirklichkeit theoretisch untersuchen zu können, ist es andererseits unerläßlich, vorher zu bestimmen, worin die moralische Tatsache besteht; denn um sie beobachten zu können, muß man ja erst wissen, was sie charakterisiert und woran man sie erkennt.“ (Durkheim 1967: 84)

Gert unterläßt es jedoch, sich explizit Rechenschaft von seinem Vorverständnis des Gegenstands ‘Moral’ zu geben, dieses Vorverständnis revisionsfähig zu halten und zu reflektieren, wo dieses Vorverständnis sich im Umgang mit der Sache selbst ‘normativ’ auswirkt, indem es bestimmte Sichtweisen nahelegt und andere abschneidet, bestimmte Phänomene in den Blick rückt und ihm andere entzieht. Tatsächlich ist gar nicht immer klar, was es jeweils ist, das Gert zu rekonstruieren sucht: Soll ein System von Handlungsorientierungen, Urteilen u.a. rekonstruiert werden, das gemäß der von Gert sozusagen vorgegebenen Definition als ‘moralisches’ System anzuerkennen ist?[11] Oder soll das Alltagsverständnis von Sprechern rekonstruiert werden, aufgrund dessen Akteure ihre Handlungsorientierung Y oder ihr Urteil Z als ‘moralisch’ bezeichnen? Wenn die Rekonstruktion der ‘vorfindlichen’ Praxis moralischen Urteilens und Handelns zu einer Theorie der Moral führen soll (Vgl. Gert 1998: 5), muß ja schon klar sein, was unter moralischem Urteilen bzw. Handeln zu verstehen ist.[12]

3.    Alternative Strategien der Moraldefinition

3.1     Eine empirisch-hermeneutische Lösung des Definitionsproblems?

Mit diesen Lesarten sind zwei verschiedene Strategien des Umgangs mit dem Definitionsproblem benannt. Am einfachsten mag es zunächst erscheinen, die Moraldefinition aus der Sprachpraxis der Akteure selbst zu gewinnen. Diese Lösung schlägt Matthias Kettner vor. Ihm zufolge löst sich das „Neutralitätsproblem […] als ein Scheinproblem auf“, sobald man die „Be­schrei­bungs­frage […] rein empirisch-hermeneutisch“ angeht: „Die Daten sind dann das, was kompetente Sprecher für ihre Moral halten, und die Abgrenzungen, wer und wer nicht als kompetent gilt, nehmen sie ebenfalls selbst vor“ (Kettner 2002b, 412). Freilich drängt sich hier die Frage auf, inwiefern eine solche hermeneutische Untersuchung tatsächlich als ‘empirisch’ im Sinne strikter ‘Wertneutralität’ der Untersuchung verstanden werden kann. Denn was Jürgen Habermas am Beispiel der Text­in­ter­pre­ta­tion ausführt, gilt analog auch für die Interpretation von Moralverständnissen anderer Moralsubjekte: Der „Interpret“ muß zu den mit dem Forschungsgegenstand „verbundenen Geltungsansprüchen wenigstens implizit Stellung“ nehmen; er kann dessen

„Bedeutungsgehalt […] nicht verstehen, solange er nicht in der Lage ist, sich die Gründe, die der Autor unter geeigneten Umständen hätte anführen können, zu vergegenwärtigen. Und weil die Triftigkeit von Gründen (sei es für die Behauptung von Tatsachen, für die Empfehlung von Normen und Werten oder die Expression von Erlebnissen) nicht mit dem Für-Triftig-Halten von Gründen identisch ist, kann sich der Interpret Gründe gar nicht vergegenwärtigen, ohne sie zu beurteilen, ohne affirmativ oder negativ zu ihnen Stellung zu nehmen.“ (Habermas 1981: Bd. I, 190f.; vgl. Böhler 1998: 143 ff.; )

Das Verstehen des Sinns einer Äußerung ist demnach nicht vollständig ablösbar von Stellungnahmen zur Gültigkeit dieser Äußerung. Damit möglich wird, was Gadamer ‘Hori­zont­ver­schmel­zung’ (Gadamer 1960: 289 f., 356 f.) genannt hat, muß der Hermeneutiker zumindest virtuell in die Rolle eines Teilnehmers am untersuchten Sprach­spiel schlüpfen, ohne dabei das Gepäck seiner eigenen Überzeugungen abwerfen zu dürfen. Vielmehr muß er diese Überzeugungen gerade zum Zweck der Verständigung über den ‘Gegenstand’ ins Spiel bringen und fruchtbar machen.

Unabhängig davon käme man mit dem ‘empirisch-hermeneutischen’ Verfahren nur dort zum Erfolg, wo ein Konsens unter Mitgliedern einer moralischen Gemeinschaft besteht, die sich wechselseitig als kompetente Sprecher anerkennen. Probleme entstehen, wo ein solcher Konsens nicht gegeben ist; sei es, daß Personen, die sich wechselseitig als kompetente Sprecher anerkennen und insofern eine moralische Gemeinschaft bilden, partiell von einander abweichende Moralbegriffe haben, sei es, daß es verschiedene moralische Gemeinschaften gibt, von deren Mitgliedern die Mitglieder anderer Gemeinschaften jeweils als nicht urteilskompetent angesehen werden. Dem Problem par­tiell voneinander abweichender Moralbegriffe sucht Kettner durch eine sehr vorsichtige inklusive Deutung des Moralbegriffs gerecht zu werden. Er definiert die ‘Moralperspektive’ als „eine komplexe Fähigkeit […], die in der Kommunikations- und Interaktionsgemeinschaft von Menschen normalerweise entwickelt wird: Die Fähigkeit, (1) repräsentativ ernst zu nehmen, wie (2) Handlungsaktivität von Menschen (3) in einem Bereich, für den sie als zuständig gelten, (4) zum Guten oder Schlechten (5) aller Wesen ausschlägt, die diesbezüglich zählen sollen.“ (Kettner 2002b: 412; ähnlich Kettner 2000: 389) Selbst mit dieser vorsichtigen Konjektur sind jedoch Vorentscheidungen getroffen, die für Vertreter bestimmter Moralbegriffe inakzeptabel sein können. Anhänger einer religiösen Gebotsmoral könnten beispielsweise argumentieren, daß das Moralische ausschließlich auf die Befolgung des Willens Gottes bezogen sei und mit dem „Guten oder Schlechten“ irgendwelcher Wesen (einschließlich dem ‘Wohl’ Gottes) schlechthin nichts zu tun habe – Wilhelm von Ockham hätte so argumentieren können. Auch scheint fraglich, ob mit der Definition auch Wahrhaftigkeitspflichten und andere nicht-teleologische Normen als zur Moral gehörig ausgewiesen werden können (in diesem Zusammenhang sind Leists Einwände gegen die von ihm so genannte „Benefizdefinition“ der Moral instruktiv; vgl. Leist 2000: 18 ff. in Auseinandersetzung mit Foot 1970: 132).

Wenn sich Moralsubjekte oder moralische Gemeinschaften gegenseitig die Urteilskompetenz absprechen, ergeben sich ebenfalls kaum lösbare Probleme. Die von Kettner vorgeschlagene rein empirische Methode würde hier zu einer Pluralisierung des Moralbegriffs führen. Damit geriete der Hermeneutiker indes in ein Dilemma. Denn er stünde nun vor der Entscheidung, sich entweder mit einem der Moralbegriffe zu identifizieren und die Auffassung derjenigen zu teilen, die diesen Moralbegriff vertreten, wonach ‘die Anderen’ keine kompetenten Sprecher sind – mit anderen Worten: seine Neutralität aufzugeben. Das andere Horn des Dilemmas wäre, alle Moralbegriffe als ‘gleichermaßen (relativ) gültige’ Moralbegriffe zu akzeptieren. Mit dieser Haltung würde er aber in gewisser Weise gar keine der vertretenen Positionen mehr ernst nehmen, insoweit diese selbst gerade nicht relativistisch sind, sondern universelle Geltung prätendieren. Sofern die empirisch-hermeneutische Moralforschung der Normativen Ethik statt ‘der’ Moral eine Menge konfligierender ‘Moralen’ als Forschungsgegenstand präsentieren würde, geriete zudem entweder die disziplinäre Einheit der Normativen Ethik in Gefahr, dergestalt, daß verschiedene Modelle der Normativen Ethik auch je verschiedene Moralen als Gegenstände heranziehen könnten. Oder die normativ-ethische Beschäftigung mit der Pluralität der Moralen müßte dazu führen, daß sich unter den vorfindlichen Moralen nur eine als richtige oder rechtfertigbare Moral erweist. Welche der beiden Möglichkeiten wahrscheinlicher wäre, würde davon abhängen, in welcher Weise sich die Moralen jeweils unterscheiden: Hinsichtlich des Gegenstandes, der moralisch beurteilt wird (z.B. nur spezifische Arten von Handlungen, Handlungsfolgen, Gesinnungen u.ä.) und/oder hinsichtlich der Kriteren, an denen die Beurteilung dieses Gegenstandes orientiert ist (z.B. das gute Leben des Akteurs, das gute Leben aller Handlungsbetroffener, formale oder materiale Gerechtigkeitsstandards) und/oder hinsichtlich der Gründe, die für die Eingrenzung des Gegenstandes und die Wahl der Kriterien – und eventuell für eine Hierarchie der Kriterien – angeführt werden. Aber ganz unabhängig davon, ob der empirisch-hermeneutische Befund einer Pluralität von ‘Moralen’ nun eine korrespondierende Pluralität von ‘Normativen Ethiken’ oder die Notwendigkeit einer normativ-ethisch begründeten ‘Entscheidung’ für eine ‘gültige’ Moral oder irgendeine Mischform aus beidem zur Folge hätte: die Konsequenz wäre in jedem Fall mit der Leitidee einer klaren Trennung zwischen ‘empirischen’ Definitions- und Explikationsaufgaben ‘der’ Ethik einerseits und ‘normativen’ Begründungsaufgaben andererseits unvereinbar. Die Alternativen bestehen offenbar darin, entweder die Idee der Ethik als einer einheitlichen wissenschaftlichen Disziplin zugunsten einer Pluralität unterschiedlicher und gleichermaßen gültiger Ethiken zu verabschieden, oder die Normativität von Moraldefinitionen anzuerkennen, also zu akzeptieren, daß sich schlechthin kein Vorverständnis von Moral entwickeln läßt, das nicht bereits normativ-ethisch relevante Weichenstellungen beinhaltet.

3.2 Nominaldefinition des Moralbegriffs und Primat der Normativen Ethik?

Eine Lösung, die dem ‘empirisch-hermeneutischen’ Verfahren entgegengesetzt ist, hat Richard M. Hare vorgeschlagen. Hare geht davon aus, daß der Alltagsgebrauch des Begriffs „moralisch“ in hohem Maße „mehrdeutig ist“. Er habe „nicht nur eine ganze Reihe wohldefinierter Gebrauchsweisen, sondern auch ein sehr vages Spektrum von Verwendungen, die ineinander übergehen und kaum zu unterscheiden sind.“ (Hare 1992: 103) Hare versucht daher gar nicht erst, ‘den’ Gebrauch des Wortes zu treffen, sondern beschränkt sich bewußt auf eine Nominaldefinition des Begriffs „moralisch“.

„Wir geben einfach zu, daß das Wort mehrdeutig, ja sogar vage ist, und definieren dann eine seiner Verwendungsweisen so, daß damit der Gebrauch von »sollte« und »muß« erfaßt wird, an dem wir primär interessiert sind. […] Als eine erste Annäherung könnten wir etwa vorschlagen, daß ein Gebrauch von »sollte« oder »muß« dann ein moralischer Gebrauch in diesem Sinne ist, wenn das diese Wörter enthaltende Urteil (1) präskriptiv und (2) universalisierbar ist und (3) unterordnende Kraft hat. (Hare 1992, S. 103 f.)

Der Begriff „moralisch“ wird von Hare so definiert, daß dasjenige, was die eigene ethische Theorie zu klären und zu begründen vermag, davon getroffen wird. Die von rekonstruktiven Ansätzen gewählte Argumentationsrichtung von der Moralexplikation zur Moralbegründung wird insofern – zumindest was den Begriff „Moral“ betrifft – geradewegs umgekehrt: Die Theorie soll sich nicht nach demjenigen richten, was zuvor als Moral identifiziert worden ist; vielmehr wird der Begriff „moralisch“ in derjenigen Weise konstruiert, die den Begründungszwecken der Theorie am besten dient. Man könnte insofern von einer ‘konstruktivistischen’ Vorgehensweise sprechen. Hare betont, daß er „nichts dagegen hätte, wenn der in diesem Sinne verwendete Ausdruck »moralisch« durch den Ausdruck »unterordnend-präskriptiv-universalisierbar« ersetzt würde […]. Dann könnte ich das Wort »moralisch« mit Freuden jenen schenken, die es in einer seiner anderen Bedeutungen verwenden möchten.“ (Hare 1992, S. 104)

Ein ganz ähnliches Verfahren schlägt auch Ernst Tugendhat vor:

„Das Wort »Moral« hat nichts Sakrosanktes und ist überhaupt nicht sehr alt. Man muß in der Philosophie immer davon ausgehen, daß es sinnlos ist, sich über die wahre Bedeutung von Wörtern zu streiten. Worauf es ankommt, ist, die verschiedenen möglichen Bedeutungen eines Wortes zu unterscheiden und sich darüber im klaren zu sein, in welcher Bedeutung man es verwenden will. Darüber hinaus wird man freilich bei philosophisch wichtigen Wörtern, wie es das Wort »Moral« ist, darauf achten müssen, daß man mit ihm einen wirklich vorhandenen Grundzug im menschlichen Verstehen trifft, egal in welchen Wörtern er sich in den verschiedenen Kulturen äußert.“ (Tugendhat 1993: 33)

Auch nach Tugendhats Auffassung sind die „Worte »Ethik« und »Moral«“ (Tugendhat 1993: 34) nicht gut „als Orientierungspunkte für die Klarstellung, was wir unter einer Moral oder einem moralischen Urteil verstehen wollen“ (Tugendhat 1993: 34 f.), geeignet. Auch er plädiert deshalb dafür, die normativ-ethische Begründungsarbeit an einer anderen Begrifflichkeit anzusetzen, nämlich „an einer bestimmten Verwendung der Wörtergruppe »muß« / »kann nicht« / »soll« und der Wörtergruppe »gut« / »schlecht«“ (Tugendhat 1993: 35 f.). Als Kriterium für „»moralische Urteile«“ schlägt er dann folgende Definition vor: „Alle Aussagen, in denen explizit oder implizit das praktische Müssen oder ein Wertausdruck (»gut« oder »schlecht«) grammatisch absolut vorkommen, drücken moralische Urteile in diesem Sinn aus; »in diesem Sinn«, denn ich behaupte nicht, daß man das Wort »moralisch« nicht auch anders definieren könnte.“ (Tugendhat 1993: 37)

Was ist von solchen Definitionsstrategien zu halten? Leist erklärt Hares These, „daß er für seine Theorie das Wort »moralisch« gar nicht benötigt und wegen seiner Vieldeutigkeit besser auf es verzichten sollte“, für „eigenartig“; sie sei „[n]atürlich […] Ausdruck eines erheblichen Problems seiner Theorie“ (Leist 2000: 15). Leist argumentiert allerdings gar nicht allgemein gegen die von Hare und Tugendhat gewählte Definitionsstrategie, sondern kritisiert nur exemplarisch die von Hare vorgeschlagene Moraldefinition. Seine Kritik zielt vor allem auf das Kriterium der overridingness (‘Letztgeltung’) sowie allgemein auf den rein formalen Charakter des Hareschen Moralbegriffs. Dieser sei Konsequenz der Tatsache, daß Moral Hare zufolge „nur aus subjektiven Wünschen – in Verbindung mit einer logischen Operation, Universalisierung – hervorgeht“ (Leist 2000: 18). Indessen kann man auch ohne Hares problematische (dezisionistische) Hintergrundtheorie, etwa im Rahmen einer Ethik kantischen Typs, einen formalen Moralbegriff und eine Art Letztgeltungs-Kriterium vertreten. Mit der berechtigten Kritik an Hares Modell der Präferenzuniversalisierung (vgl. u.a. Wimmer 1995) lassen sich solche Definitionen also nicht zurückweisen. Leist sucht daher zu zeigen, daß das Kriterium der overridingness ‘unplausibel’ ist (Leist 2000: 18). Hierzu muß er freilich voraussetzen, daß Hare seine „Theorie auch immer als rationale Rekonstruktion der tatsächlichen Moralsprache, und damit der tatsächlichen Moral“ (Leist 2000: 15) verstanden wissen wollte. Aber auch unter dieser Voraussetzung (die immerhin in einer gewissen Spannung zu Hares Zugeständnis steht, keine Rekonstruktion ‘des’ Moralbegriffs angezielt zu haben) ist Leists Plausibilitätsargument nicht überzeugend. Leist entfaltet seinen Einwand an Hares Beispiel, „daß ein Konflikt zwischen seinem ästhetischen Prinzip, unverträgliche Farben nicht nebeneinanderbestehen zu lassen, und dem Verletzen der Gefühle seiner Frau entsteht, die zwei farblich unverträgliche Kissen nebeneinander plaziert hat“. Leist meint nun erstens, daß ein überzeugter Ästhet durchaus zu dem Schluß gelangen könne, daß sein ästhetisches Prinzip Vorrang vor dem moralischen Prinzip (der Nicht-Kränkung) haben könne und daß es unplausibel sei, in diesem Fall das ästhetische Prinzip plötzlich ‘moralisch’ zu nennen. Leist übersieht dabei, daß Hare ausdrücklich nur die spezifischen Prinzipien der kritischen Ebene, nicht hingegen die Prima-facie-Prinzipien der intuitiven Ebene moralischen Urteilens als overriding betrachtet. Overriding (und damit ggf. ‘moralisch’) wäre im Beispielsfall daher nicht etwa das rein ästhetische Prima-facie-Prinzip, nicht zwei unverträgliche Kissen nebeneinanderzulegen. Overriding wäre vielmehr das kritische Prinzip, in einer spezifischen Situation S mit den in universellen Termini ausdrückbaren Merkmalen M1-n dem legitimen Interesse eines Ästheten Vorrang vor dem legitimen Interesse seiner Ehefrau einzuräumen. Ein solches Vorrangprinzip „moralisch“ zu nennen, erscheint nach meinem Dafürhalten nun keineswegs unplausibel. Nach Hare wäre die jeweilige Vorrangbeziehung freilich nur nach dem Maß der jeweiligen Präferenzstärken zu entscheiden, was zweifellos unplausibel ist. Aber dieser Mangel an Plausibilität schlägt offenbar nicht auf das Kriterium der ‘Letztgeltung’ durch, solange ähnliche Unterscheidungen zwischen Prima-facie-Prinzipien und situationsspezifischen (bzw. ‘kritischen’) Prinzipien auch auf anderer, nicht-präferenzutilitaristischer Grundlage konzipiert werden können.

Lassen sich aus dem zuletzt Gesagten Konsequenzen für eine allgemeine Einschätzung der ‘konstruktivistischen’ Strategie im Vergleich mit ‘rekonstruktiven’ oder ‘hermeneutischen’ Ansätzen ziehen? Scheinbar nicht, denn schließlich lassen sich ganz verschiedene Moraldefinitionen mit der ‘konstruktivistischen’ Strategie vereinbaren, und Leists Kritik bezieht sich ja nur auf das Kriterium der overridingness. Auffällig ist allerdings in diesem Zusammenhang, daß diejenigen Theoretiker, die in der Moraltheorie für common-sense- oder plausibilitätsgestützte, rekonstruktive und empirisch-hermeneutische Methoden plädieren, in aller Regel auch das Kriterium der overridingness ablehnen.[13] Dieser Befund läßt indes verschiedene Deutungen zu. Eine mögliche Erklärung wäre, daß diese Theoretiker aufgrund ihrer größeren Nähe zur ‘faktischen’, ‘gelebten’ Moral weniger für normativistische Überspanntheiten anfällig sind, wie sie im Kriterium der overridingness (vermeintlich) zum Ausdruck kommen. Eine andere, nicht weniger plausible Erklärung wäre, daß diejenigen, die Moral nicht als overriding konstruieren können, da sie ‘Letztgeltungs’-Ansprüche im Rahmen ihrer normativen Theorie nicht glauben ausweisen zu können, besonders nachdrücklich auf die explikative Angemessenheit oder intuitive Plausibilität ihrer Moraltheorien verweisen müssen.

4.    Diskursethik als Rekonstruktion von (welcher?) Moral?

Da nun die Vermutung begründet scheint, daß ein Zusammenhang zwischen (a) der gewählten Strategie zur Lösung des Problems der Moraldefinition (b) der faktisch vorgeschlagenen Moraldefinition sowie (c) den normativ-ethischen Hintergrundüberzeugungen besteht, möchte ich abschließend die Argumentationsrichtung gewissermaßen umkehren und fragen, ob und in welchem Sinne die Diskursethik als Rekonstruktion der Moral verstanden werden kann oder verstanden werden sollte – und welcher Moralbegriff dabei gegebenenfalls zugrunde zu legen ist. Diese Frage verdient Interesse nicht nur wegen der Kritik an den vermeintlich lebensfremden Abstraktionen und Idealisierungen der Diskursethik seitens derer, die der Rekonstruktion der ‘faktischen’ Moral und ihrer lebensweltlichen und anthropologischen Konstitutionsbedingungen einen größeren Stellenwert zumessen möchten (vgl. exemplarisch Rentsch 1999: Kap. 1; Rentsch 2000: 93 ff., 99 ff., 147 ff.). Sie scheint auch deshalb klärungsbedürftig, weil die Diskursethik auch von ihren Vertretern häufig als eine (partiell) rekonstruktive Theorie verstanden wird. So schreibt beispielsweise Wolfgang Kuhlmann:

„Philosophische Ethik muß so beschaffen sein, daß auch der Nichtphilosoph das in ihr wiederfinden kann, was er vor aller Philosophie schon wußte, ohne es allerdings angemessen ausdrücken zu können. […] Wenn philosophische Ethik dieser Bedingung genügen muß, dann muß sie immer auch eine Rekonstruktion von etwas sein, das vorher schon da war und als Moral verstanden wurde.“ (Kuhlmann 1984: 504 f.; vgl. auch Habermas 1991: 125)

Indes muß doch irritieren, daß Kuhlmann sich eben jenen Vergleich von Moraltheorie und Linguistik zu eigen macht (vgl. Kuhlmann 1984: 505), auf den auch Gert seine ethische Konzeption zu stützen sucht, die sich von der Diskursethik deutlich unterscheidet. Schließlich läßt sich fragen, wie das Verständnis der Diskursethik als Rekonstruktion mit der Einschätzung verträglich ist, daß die Diskursethik eine konstruktivistische Theorie in der Tradition des ‘Kantischen Konstruktivismus’ (Rawls) darstellt (vgl. u.a. Habermas 1996). In welchem Sinn also kann oder sollte die Diskursethik als (‘normative’) Rekonstruktion der (und gegebenenfalls welcher?) Moral verstanden werden? Es geht hier wohlgemerkt nicht darum zu klären, inwiefern die Diskursethik mit rekonstruktiven Theorien der Moralpsychologie oder der Soziologie kooperieren kann oder sollte (hierzu v.a. Habermas 1983: 29 ff.), sondern um den methodologischen Anspruch der Diskursethik selbst.

Für die Beantwortung dieser Frage spielt die Zweistufigkeit der Diskursethik eine wesentliche Rolle (vgl. Kuhlmann 1985, S. 246 f.; Habermas 1991, S. 21). Im Rahmen der von der Diskursethik geforderten praktischen Diskurse können zweifellos auch ‘moralrekonstruktive’ Verfahren fruchtbar gemacht werden. ‘Moralrekonstruktion’ kann dabei in etwa so verstanden werden wie in der Theorie Bernard Gerts oder der elaborierteren Rawlsschen Konzeption des Überlegungsgleichgewichts. Gegenstand rekonstruktiver Bemühungen sind substantiell gehaltvolle moralische – oder vormoralische – Intuitionen, die durch das rekonstruktive Verfahren systematisiert und diskutierbar gemacht werden. Reale praktische Diskurse, wie sie von der Diskursethik gefordert werden, stellen einen Rahmen für solche Klärungsprozesse innerhalb gegebener ‘normativer Texturen’ (Kettner) zur Verfügung, der ‘monologische’ Sequenzen als Teile eines umfassenden Klärungsprozesses zu integrieren vermag. Im Unterschied zu Verfahren, die ausschließlich auf die Rekonstruktion substantieller moralischer Intuitionen setzen, kann im Rahmen praktischer Diskurse allerdings auf diskursreflexiv aufweisbare Grundnormen Bezug genommen werden, die gegebenenfalls als ‘Knock-out-Argumente’ gegen bestimmte Intuitionen (oder gegen bestimmte theoretische Rekonstruktionen solcher Intuitionen) angeführt werden können. So ist die Diskursethik für die Zurückweisung anti-universalistischer Intuitionen nicht auf die Gunst der historischen Stunde und des geographischen Orts angewiesen, sondern vermag die Kraft der Einrede aus dem universalistischen Logos der Sprache selbst zu schöpfen. Hier liegt zweifellos ein wichtiger Unterschied zwischen der Diskursethik und ‘rekonstruktiven Ethiken’ im üblichen Verständnis. Zugleich liegt hier ein Grund dafür, daß in diesem Zusammenhang kein Selektionskriterium für moralische Intuitionen benötigt wird, um einen Ausgangspunkt der Rekonstruktionsbemühungen zu gewinnen. Da im Rahmen der von der Diskursethik geforderten praktischen Diskurse gewisse normative Rahmenbedingungen bereits ‘vorgegeben’ sind (die freilich in realen Diskursen immer wieder neu aufgewiesen, interpretiert und fruchtbar gemacht werden müssen), kann vollständig auf die selektive Kraft der Diskurspraxis selbst vertraut werden, ohne daß hier eine vorab festgelegte Definition des Moralischen benötigt würde, um aus der Gesamtheit der Intuitionen die ‘moralischen’ und insofern rekonstruktionswürdigen herauszufiltern. In diesem Sinne stellt sich also in praktischen Diskursen kein Zirkularitätsproblem.

Entscheidendes ist mit diesem Hinweis jedoch noch nicht geklärt. Denn daß im Rahmen praktischer Diskurse sehr verschiedene Formen ethischen Argumentierens Anwendung finden können, gehört ja gerade zu dem – in dieser Hinsicht – bewußt ‘liberalen’ Programm der Diskursethik. Die Tatsache, daß im Rahmen praktischer Diskurse rekonstruktive Argumentationssequenzen auftreten dürfen, ist daher kaum ein hinreichender Grund, die Diskursethik selbst als ‘rekonstruktiv’ zu bezeichnen. Schließlich können im Rahmen praktischer Diskurse auch hedonistische Maximierungskalküle eine Rolle spielen, ohne daß die Diskursethik deshalb als ‘utilitaristisch’ zu bezeichnen wäre. Andererseits scheint jedoch klar zu sein, daß die Rechtfertigung des normativen Grundgerüsts der Diskursethik, also zumal die Begründung des Moralprinzips, offenbar nicht in derselben Weise als rekonstruktiv verstanden werden kann wie die Rekonstruktion substantieller moralischer Intuitionen im Rahmen praktischer Diskurse. Ein in diesem Sinne gerechtfertigtes Moralprinzip könnte stets nur als fallibler Rekonstruktionsvorschlag ihrerseits keineswegs sakrosankter moralischer Intuitionen gelten. Aus Sicht der Vertreter der Diskursethik wäre eine solche Rechtfertigung jedoch zu schwach. Sie setzen daher bekanntlich auf reflexive, transzendentale oder zumindest ‘schwach’ transzendentale Begründungen, die an der performativ-propositionalen Doppelstruktur sprachlicher Äußerungen ansetzen (hierzu v.a. Kuhlmann 1985; Kuhlmann 2002). Lassen sich derartige reflexive Begründungen zugleich als Rekonstruktionen bzw. als ‘normative’ Rekonstruktionen verstehen? Und was wird hier gegebenenfalls rekonstruiert?

Mir scheint, daß man die Diskursethik in einem gewissen, nicht nur metaphorischen Sinn durchaus als eine Rekonstruktion der Moral verstehen kann. Voraussetzung ist allerdings, daß diese Beschreibung nicht substantialistisch mißverstanden wird. Denn die Rekonstruktion bezieht sich hier jedenfalls nicht auf bestimmte Intuitionen, die aufgrund ihres spezifischen Inhalts als moralische Intuitionen bezeichnet werden müßten, wie beispielsweise eine ‘intuitive’ Abscheu gegen das Töten. Indes ist es keineswegs zwingend, Überzeugungen, Urteile, Normen oder Intuitionen aufgrund eines spezifischen Inhalts zur Klasse moralischer Intuitionen zu zählen. Meines Erachtens wäre dies nicht einmal besonders plausibel. Einige Schwierigkeiten der von Gert und Kettner vorgeschlagenen substantiell gehaltvollen Moraldefinitionen sind ja bereits angedeutet worden; auch auf Leists Problematisierung der ‘Benefizdefinition’ der Moral wurde schon hingewiesen. Für eine alternative Deutung des Moralischen läßt sich zudem mit dem Eindruck werben, daß den ‘Inhalten’ bestimmter Präskriptionen als solchen gar nicht anzusehen sei, ob sich mit ihnen ein moralischer, ein konventioneller, ein ästhetischer oder im habermasschen Sinne ‘ethischer’ oder sonst ein nichtmoralischer Geltungssinn verbindet. Leists Argumentation gegen das Haresche ‘Sofakissen-Beispiel’ sei, so könnte man argumentieren, insofern selbst unplausibel, als sie eine starre Zuordnung von Inhalt und (ästhetischem oder moralischem) Geltungssinn suggeriere, obwohl wir es üblicherweise für möglich hielten, daß ein und derselbe Norminhalt in unterschiedlichen Geltungsdimensionen auftrete. So könne es zugleich konventionell und moralisch geboten sein, seinen Sitzplatz einer schwangeren Frau anzubieten, und es könne zugleich rechtlich und moralisch geboten sein, einem Schwerverletzten Hilfe zu leisten. Ebenso könne es zugleich ästhetisch und moralisch geboten sein, keine grob unpassenden Sofakissen nebeneinander zu drapieren – nämlich etwa dann, wenn damit einem übermäßig empfindsamen Menschen eine beträchtliche Minderung seines Wohlbefindens zugemutet werde. Solche Überlegungen begünstigen die Vermutung, daß der spezifische Geltungsmodus unbedingter Verbindlichkeit bzw. von niemandem zurückweisbarer Begründbarkeit (vgl. Forst 1999) letztlich doch ein plausibleres Kriterium des Moralischen darstellt (vgl. Steigleder 1999: 18 ff.; Kuhlmann 1985: 186 f.).

Die Frage, inwiefern die reflexive Rechtfertigung des Moralprinzips zugleich als – ‘normative’ – Rekonstruktion der Moral verstanden werden kann, läßt sich klären, sobald der Gegenstand dieser Rekonstruktion in einer theorieadäquaten Weise bestimmt wird: Die Diskursethik kann insoweit als Rekonstruktion des Moralischen verstanden werden, als mit dem Begriff ‘moralisch’ nicht eine inhaltliche Spezifikation von Handlungen, Intentionen, Normen, Urteilen, Intentionen, Intuitionen o.ä. ausgezeichnet wird, sondern allein eine inklusiv zu verstehende, d.h. instrumentelle oder pragmatische Geltungsansprüche zugleich umgreifende und unterordnende, Dimension kategorischer Verbindlichkeit bzw. nicht-zurückweisbarer Begründbarkeit präskriptiver Gehalte. Die Diskursethik rekonstruiert demnach ‘die Moral’ oder ‘das Moralische’ genau insofern, als sie den moralspezifischen Anspruch kategorischer Verbindlichkeit, der sich mit moralischen Präskriptionen und Urteilen verbindet, zu ‘rekonstruieren’ – was in diesem Zusammenhang offenbar nur heißen kann: zu rechtfertigen – vermag.

Man muß nun nicht unbedingt so weit gehen wie Martin Seel, dem zufolge „die philosophische Ethik seit jeher die Auffassung vertreten [hat], daß die moralischen Urteile eine vorrangige Gültigkeit haben“ (Seel 1995: 321). Man wird aber zumindest behaupten dürfen, daß die vorgeschlagene Deutung des Moralischen nicht sonderlich bizarr ist. Immerhin findet sich schon bei Seneca eine klare Antizipation dieser Deutung, wo er Moral als diejenige „regula“ bezeichnet, „haec de omnibus rebus iudicat, de hac nulla“ (Seneca 1999: Bd. IV, 33 [Ep. mor. ad Lucilium 71, 20]). Freilich ist niemand gezwungen, den Begriff „moralisch“ oder „Moral“ in der vorgeschlagenen Weise, und nur in dieser, zu verwenden. Die Diskursethik kann und muß hier dasselbe Zugeständnis machen wie Hare und Tugendhat. Aber dieses Zugeständnis ist einigermaßen harmlos. Es geht schließlich nicht darum, eine bestimme Begriffskonvention durchzusetzen. Wenn es denn möglich ist, bestimmte Präskriptionen und praktische Urteile als ‘unhintergehbar’ gültig und kategorisch gebietend aufzuweisen, dann bleibt es nebensächlich, ob man diese Verpflichtungen, denen man rationalerweise nicht entkommen kann, nun moralische Verpflichtungen nennen möchte oder nicht. Aus der Sicht derjenigen, die eine Rechtfertigung unbedingter praktischer Verbindlichkeit nicht für möglich halten, mag sich das Problem freilich anders darstellen. Es ist nicht unplausibel zu unterstellen, daß der hohe Stellenwert, den für sie eine ‘gegenstandsadäquate’ Explikation der Moral einnimmt, den Versuch darstellt, das von ihnen als uneinholbar angesehene Kriterium unbedingter praktischer Verbindlichkeit partiell durch ein theoretisches Kriterium – im Grunde eine Art adäquationstheoretisches Wahrheitskriterium – zu ersetzen. Man könnte sogar fragen, ob sie nicht gerade dadurch ein gewisses Indiz für die von ihnen explizit bestrittene Vorrangigkeit des Moralischen beisteuern. Denn warum sollten sie es für entscheidend halten, mit der eigenen Theorie den Gegenstand Moral selbst (und nicht etwas anderes) zu treffen – wenn nicht gerade deshalb, weil dem Moralischen im Alltagsbewußtsein eine ganz besondere Verbindlichkeit zuerkannt wird?

Literatur

 

Birnbacher, Dieter, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin; New York 2003.

Böhler, Dietrich, »Transzendentalpragmatik und kritische Moral: Über die Möglichkeit und die moralische Bedeutung einer Selbstaufklärung der Vernunft«, in: Kommunikation und Reflexion: Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik: Antworten auf Karl-Otto Apel, hg. v. Wolfgang Kuhlmann u. Dietrich Böhler, Frankfurt a. M. 1982.

–, »Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik. Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung?«, in: Zwischen Universalismus und Relativismus: Philosophische Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements, hg. v. Horst Steinmann u. Andreas G. Scherer, Frankfurt a. M. 1998, S. 126-178.

Cicero, Marcus Tullius, De fato. Lateinisch-deutsch, herausgegeben von Karl Bayer, München 1963.

Daniels, Norman, Justice and Justification: Reflective Equilibrium in Theory and Practice, Cambridge 1996.

Durkheim, Émile, Soziologie und Philosophie. Einleitung von Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M. 1967.

Düwell, Marcus; Hübenthal, Christoph u. Werner, Micha H., »Ethik: Begriff – Geschichte – Theorie – Applikation«, in: Handbuch Ethik, hg. v. Marcus Düwell, Christoph Hübenthal u. Micha H. Werner, Stuttgart; Weimar 2002, S. 1-23.

Foot, Philippa, »Morality and Art«, in: Proceedings of the British Academy 56 (1970), S. 131-44.

Forst, Rainer, »Praktische Vernunft und rechtfertigende Gründe: Zur Begründung der Moral«, in: Motive, Gründe, Zwecke, hg. v. Stefan Gosepath, Frankfurt a. M. 1999, S. 168-205.

–, »Ethik und Moral«, in: Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit: Festschrift für Jürgen Habermas, hg. v. Lutz Wingert u. Klaus Günther, Frankfurt a. M. 2001, S. 344-372.

Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960.

Gert, Bernard, Morality: Its Nature and Justification, New York; Oxford 1998.

Gert, Bernard u. Kettner, Matthias, »Rationalität und Moral: Ein Gespräch mit Bernard Gert«, in: Information Philosophie im Internet http://www.information-philosophie.de/philosophie/gert%20ratiomoral.html (1998).

Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981.

–, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983.

–, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991.

–, »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt des Sollens«, in: ders: Die Einbeziehung des Anderen: Studien zur politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1996, S. 11-64.

Hare, Richard M., Moralisches Denken: Seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, Frankfurt a. M. 1992.

Hegel, Georg W., Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt a. M. 1970.

Hoerster, Norbert, »Ethik und Moral«, in: Texte zur Ethik, hg. v. Dieter Birnbacher u. Norbert Hoerster, München 1997, S. 9-23.

Hügli, Anton u. Lübcke, Poul (Hg.), Philosophielexikon, Reinbek b. Hamburg 1991.

Jüssen, G., »Moral, moralisch, Moralphilosophie I: Lateinische Antike«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Basel; Stuttgart 1984, S. 150 f.

Kant, Immanuel, Werke: Akademie Textausgabe, Berlin 1968.

Kellerwessel, Wulf, Normenbegründung in der Analytischen Ethik, Würzburg 2003.

Kettner, Matthias, »Welchen normativen Rahmen braucht die angewandte Ethik?«, in: Angewandte Ethik als Politikum, hg. v. Matthias Kettner, Frankfurt a. M. 2000, S. 388-407.

–, »Gert's Moral Theory and Discourse Ethics«, in: Bernard Gert and the Nature of Morality: Critical Discussions, hg. v. Walter Sinnott-Armstrong, Oxford 2002a, S. 31-50.

–, »Moral«, in: Handbuch Ethik, hg. v. Marcus Düwell, Christoph Hübenthal u. Micha H. Werner, Stuttgart; Weimar 2002b, S. 410-414.

Kuhlmann, Wolfgang, »Warum Normenethik?«, in: Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte, Bd. 2, hg. v. Karl-Otto Apel, Dietrich Böhler u. Karlheinz Rebel, Weinheim; Basel 1984, S. 500-509.

–, Reflexive Letztbegründung: Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, Freiburg i. Br.; München 1985.

–, »Moralität und Sittlichkeit: Ist die Idee einer letztbegründeten normativen Ethik überhaupt sinnvoll?«, in: Moralität und Sittlichkeit: Das Problem Hegels und die Diskursethik, hg. v. Wolfgang Kuhlmann, Frankfurt a. M. 1986, S. 194-216.

–, »Begründung«, in: Handbuch Ethik, hg. v. Marcus Düwell, Christoph Hübenthal u. Micha H. Werner, Stuttgart; Weimar 2002, S. 313-319.

Leist, Anton, Die gute Handlung: Eine Einführung in die Ethik, Berlin 2000.

MacIntyre, Alasdair C., Der Verlust der Tugend: Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995.

Rawls, John, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971.

Rentsch, Thomas, Die Konstitution der Moralität: Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Mit einem Vorwort zur Taschenbuchausgabe 1999: Methode und Selbsterkenntnis, Frankfurt a. M. 1999.

–, Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt a. M. 2000.

Seel, Martin, Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt a. M. 1995.

Seneca, Lucius A., Philosophische Schriften: lateinisch und deutsch. Herausgegeben von Manfred Rosenbach, Darmstadt 1999.

Steigleder, Klaus, Grundlegung der normativen Ethik: Der Ansatz von Alan Gewirth, Freiburg i. Br.; München 1999.

Tugendhat, Ernst, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993.

Warnock, Geoffrey J., Contemporary Moral Philosophy, London 1967.

Williams, Bernard, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge, Mass. 1998.

Wimmer, Reiner, »Dezisionistischer und naturalistischer Irrationalismus in der Ethik«, in: Zum moralischen Denken, Bd. 1, hg. v. Christoph Fehige u. Georg Meggle, Frankfurt a. M. 1995, S. 298-312.



[1]     Vgl. u.v.a. Birnbacher 2003: 1 ff., Düwell et al. 2002: 1 ff., Hoerster 1997, Hügli/Lübcke 1991: 172 ff., Leist 2000: 1 ff. Eine abweichende Terminologie verwendet unter anderem Habermas; vgl. Habermas 1991: 100 ff., hierzu Forst 2001.

[2]     Zur begriffsgeschichtlich „kuriosen Herkunft“ der Begriffe Ethik und Moral vgl. auch Tugendhat 1993: 34 f.

[3]     Alasdair C. MacIntyre meint, daß die Bedeutung des Moralbegriffs „kontinuierlich enger wird“ und „im 16. und 17. Jahrhundert […] seine moderne Bedeutung“ erhält; MacIntyre 1995: 60.

[4]     U.a. Hegel 1970: Bd. II, 434-530, Bd. VII. Für Kant ist übrigens die heute gängige Gegenüberstellung von Moral und Ethik bzw. Moralphilosophie nicht von Bedeutung. Im Rahmen seines Systems ist „Moral“ gleichbedeutend mit dem „rationalen Teil“ der Ethik, demjenigen Teil also, den wir heute als Normative Ethik bezeichnen würden, während die „praktische Anthropologie“ den „empirischen“ Teil der Ethik bildet, Kant 1968: Bd. IV, 388 [GMS, Akad.-Ausg.].

[5]     Hierzu, auch vorgreifend zu den folgenden Ausführungen, Böhler 1982.

[6]     Gert schränkt allerdings sogleich wieder ein: „Nonetheless, like a description of grammar, a proposed description of morality that conflicts with one’s own considered moral decisions and judgments generally should not be accepted.“ Gert 1998: 5.

[7]     Einige seiner Festlegungen wirken dabei recht dogmatisch: „Although it might seem that life itself is a good, all [!] rational persons would give up life if they were in a persistent vegetative state, that is, if they permanently lacked consciousness“; Gert 1998: 92.

[8]     Wo Gert dann doch versucht, sein Rationalitätskonzept direkt gegen Alternativvorschläge zu verteidigen, unterlaufen ihm zirkuläre oder unvollständige Argumentationen wie die folgende: „Although I do not deny that it is correct to talk of scientific rationality, it cannot be taken as the fundamental sense of rationality. Scientific rationality cannot explain why it is irrational not to avoid suffering avoidable harms when no one benefits in any way, and rational to avoid such harm. The avoiding-harm account of rationality does explain why it is rational to reason correctly and to discover new truth; doing so helps people to avoid harm.“ (Gert 1998: 39).

[9]     Ganz ähnlich urteilt Bernard Williams im Rahmen einer ausführlichen kritischen Auseinandersetzung mit dem Vergleich zwischen linguistischer und ethischer Theorie; vgl. Williams 1998: 99.

[10]    …selbst wenn man nicht so weit gehen will wie Anton Leist, der gegen ‘kohärentistische’ Vorschläge, „wonach die normativen Prädikate sich irgendwie gegenseitig erhellen“ die rhetorische Frage richtet: „Aber wie können sich unklare Prädikate gegenseitig erhellen? Wie können sich arme Leute reicher machen, indem sie sich gegenseitig von dem Wenigen geben, das sie haben?“; Leist 2000: 27.

[11]    Dieser Eindruck entsteht deutlich in einer Antwort Gerts auf einen Einwand Matthias Kettners in Gert/Kettner 1998.

[12]    Ein analoges Problem findet sich in folgender Formulierung Leists: „Welche Forderung können wir […] an eine Definition oder Klärung des Prädikats »moralisch« stellen? […] Diejenige Definition wäre erfolgreich, die das Moralsystem verständlicher werden läßt als bisher, ihm also zusätzlichen Sinn gibt (anhand etwa einer bestimmten Funktion oder eines bestimmten Inhalts) und gleichzeitig mit möglichst vielen seiner Elemente vereinbar ist.“ (Leist 2000: 14 f.) Offenkundig brauchen wir schon eine Definition von „moralisch“, um interpretieren zu können, welches eigentlich das System („Moralsystem“) ist, das wir verständlich machen müssen.

[13]    Vgl. außer Leist auch Gert 1998: 10, 12, 313 f., Kettner 2002b: 412, Birnbacher 2003: 40 ff.



Zurück