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Werner, Micha H. / Wiesing, Urban (2002):

Lehren aus dem Fall Viagra?
Der Krankheitsbegriff im Sozialrecht am Beispiel der erektilen Dysfunktion

Conclusions From the Viagra Case?
Definition of Disease in Social Legislation As Exemplified by Erectile Dysfunction

In: Das Gesundheitswesen 64 (2002):  S. 398-405.
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Zusammenfassung

Der Beitrag zeichnet die Kontroverse über die Frage nach, ob die gesetzlichen Krankenversicherungen zur Erstattung der Kosten für die Behandlung erektiler Dysfunktion verpflichtet sind. Neben der Frage nach den Befugnissen und der Frage der Wirtschaftlichkeit war und ist in dieser Kontroverse vor allem umstritten, ob erektile Dysfunktion überhaupt eine Krankheit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung darstellt. Dies zwingt zu allgemeineren Überlegungen bezüglich der Definierbarkeit und der normativen - sozialrechtlichen und ethischen - Relevanz des Krankheitskonzepts für die Begründung und Begrenzung des sozial finanzierten medizinischen Leistungsangebots.

Abstract

The article describes the controversy about the question whether statutory social health insurances are obliged to reimburse the costs for the treatment of erectile dysfunction. Next to the question whether the ‘Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen’ was entitled to decide it was highly controversial whether erectile dysfunction is a disease according to the laws of social insurance. This enforces more general considerations regarding the possibility to define disease and the relevancy of a concept of disease for the justification and limitation of socially financed services in medicine.

Der Fall Viagra

Chronologie

Am 27. März 1998 erteilt die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) Sildenafil (Handelsname: Viagra) die Zulassung als Medikament für die Behandlung der erektilen Dysfunktion. Noch vor der europäischen Zulassung am 15. September desselben Jahres beschließt der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in Änderung der geltenden Arzneimittelrichtlinien (AMRL), dass „Arzneimittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion und Mittel, die der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz dienen”, nicht mehr auf Kassenrezept verordnet werden dürfen (Nr. 17.1 Buchstabe f AMRL). Zuvor waren nur solche Mittel ausgeschlossen, „die ausschließlich der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz dienen sollen”, nicht jedoch die seinerzeit verfügbaren Mittel zur Behandlung erektiler Funktionsstörungen (zum Beispiel Mittel zur Schwellkörper-Autoinjektionstherapie [SKAT] oder Vakuumpumpen). Ursprünglich sollte nur Sildenafil von der Erstattungspflicht ausgeschlossen werden. Auf seiner Sitzung am 3. August 1998 entscheidet sich der Bundesausschuss jedoch für den vollständigen Ausschluss jeglicher Medikamente gegen erektile Dysfunktion. Die Kassen sollen hingegen weiterhin Aufwendungen für Psychotherapie und Hilfsmittel tragen.

Der Beschluss des Bundesausschusses wird vom damaligen Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, nicht beanstandet, so dass er mit der Veröffentlichung im Bundesanzeiger am 30. September - exakt einen Tag vor dem Verkaufsstart für Viagra in Europa - als Ergänzung der Arzneimittelrichtlinie (Nr. 17.1 f AMRL) in Kraft treten kann [1]. Damit scheint der „Super-Gau für die GKV” rechtzeitig abgewendet. „Klarheit” und „Eindeutigkeit” der beschlossenen Regelung [2] sind jedoch nicht von Dauer. Denn die Judikative stellt die Gültigkeit der Anordnung des Bundesausschusses mehrfach infrage. Zwar weist das Landgericht München I am 5. Juli 1999 die Klage eines 52-jährigen Diabetikers gegen eine private Krankenversicherung auf Erstattung der Kosten für Viagra ab (30 O 8962/99). Am 30. September 1999 gibt jedoch das Bundessozialgericht (BSG) letztinstanzlich einem 61-jährigen Kläger mit gefäßbedingter erektiler Dysfunktion Recht, der 1996 die Bundesknappschaft auf Kostenerstattung für das Medikament Prostavasin zur Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT) verklagt hatte (Az: B 8 KN 9/98 KR R), und bestätigt damit ein Grundsatzurteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. März 1996 (Az.: L 2 Kn 36/95). Zwar ging es in den genannten Urteilen nicht um Sildenafil, sondern um Prostavasin für die Schwellkörper-Autoinjektionstherapie. Was jedoch für die Verschreibung dieses Medikaments gilt, muss grundsätzlich auch für Viagra gelten [3]. In seine Überlegungen bezieht das BSG die Revision der Arzneimittelrichtlinien ausdrücklich ein. Seinem Urteil stünden diese jedoch „auch in ihrer ab 30.9.1998 geltenden Fassung nicht entgegen”; die einschlägigen Passagen dieser Richtlinien seien „unwirksam, da sie von ihrer Ermächtigungsnorm nicht gedeckt” seien. Diese „Ohrfeige an den Bundesausschuss” [4] sollte nicht die letzte bleiben: Am 16.11.1999 entscheidet das Sozialgericht Hannover gegen die AOK Niedersachsen, dass ein 60jähriger Kläger, der nach mehreren Nierentransplantationen an erektiler Dysfunktion leidet, ein Recht auf Erstattung der Kosten für Sildenafil habe (Az.: S2KR 485/99). Am 28. Februar 2000 entscheidet das Sozialgericht Lüneburg in zwei Fällen, dass die Kassen Medikamente zur Behandlung der erektilen Dysfunktion bezahlen müssen. Der eine Fall, bei dem es um die Erstattung von Caverject (Alprostadil) geht, wird unmittelbar rechtskräftig, weil die unterlegene Kasse auf den Weg in die nächste Instanz verzichtet (Az.: S 9 KR 94/99); der Parallelfall, bei dem die Erstattung von Sildenafil für einen 64jährigen Diabetes-Patienten strittig ist (Az.: S 9 KR 97/99), liegt derzeit zur Sprungrevision beim Bundessozialgericht (Az.: B 1 KR 19/00 R). Am 8. August 2000 entscheidet das Oberlandesgericht München ebenfalls zugunsten eines 54-jährigen Mannes auf Erstattung der Kosten für Viagra (Az.: 25 U 4628/99). Am 21. August 2000 schließlich erkennt das Sozialgericht Mannheim einem 37-jährigen Mann, der an einer erektilen Dysfunktion unbekannter Herkunft leidet, einen Anspruch auf Erstattung von Sildenafil zu (Az.: S 10 KR 2991/99).

Hintergrund der Kontroverse um Viagra ist die Befürchtung, dass die Verfügbarkeit von Sildenafil auf Kassenrezept die gesetzlichen Krankenversicherungen erheblich belasten würde. Deren genaue Höhe ist allerdings umstritten - die Schätzungen schwanken zwischen ca. 160 Millionen [3] und über 52,5 Milliarden Mark [5] zusätzlicher Arzneikosten für die gesetzlichen Krankenkassen. Diese Differenzen lassen sich vor allem durch unterschiedliche Annahmen über den Kreis der Anspruchberechtigten erklären. Schneider-Danwitz und Glaeske gehen davon aus, dass nur diejenigen ca. 80 000 Männer anspruchsberechtigt wären, die an einer krankheitsbedingten erektilen Dysfunktion leiden. Deutlich höhere Zahlen ergeben sich, wenn man allen ca. 8 Millionen von erektiler Dysfunktion Betroffenen [6] einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für Viagra zugesteht.

Sozialrechtlicher Hintergrund

Im Sozialrecht ist bei der Kontroverse über Sildenafil zwischen einer formellen und einer materiellen Problematik zu unterscheiden. In formeller Hinsicht ist vor allem umstritten, ob der Bundesausschuss mit der so genannten „lex viagra” seine Kompetenzen überschritten hat [3]. Im Folgenden soll jedoch die materielle Problematik erörtert werden. Soweit Entscheidungen über Leistungsausschlüsse im Rahmen des bestehenden sozialrechtlichen Normensystems erfolgen, ist zu klären, welchen sozialrechtlichen Normen diese Entscheidung gerecht werden muss.

Welche Pflichtleistungen die gesetzlichen Krankenversicherungen zu erbringen haben, regelt das 5. Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V), insbesondere der § 11. Versicherte haben demnach

„Anspruch auf Leistungen 1. (weggefallen), 2. zur Verhütung von Krankheiten und von deren Verschlimmerung sowie zur Empfängnisverhütung, bei Sterilisation und bei Schwangerschaftsabbruch (§§ 20 bis 24 b), 3. zur Früherkennung von Krankheiten (§§ 25 und 26), 4. zur Behandlung einer Krankheit (§§ 27 bis 52)”.

Für die Sildenafil-Kontroverse ist offenbar der Fall der Krankheitsbehandlung einschlägig, der in den §§ 27 ff. SGB genauer normiert ist. Im ersten Absatz heißt es dort:

„Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst 1. ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung, 2. zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Zahnersatz, 3. Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, 4. häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe, 5. Krankenhausbehandlung, 6. medizinische und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation sowie Belastungserprobung und Arbeitstherapie.”

Für die Frage, ob gesetzlich Versicherte einen rechtlichen Anspruch auf die Erstattung der Kosten für die Behandlung einer mutmaßlichen Krankheit haben, ist also zunächst entscheidend, ob es sich bei dem fraglichen Körper- oder Geisteszustand tatsächlich um eine Krankheit im Sinne des § 27 SGB V handelt, ob ihm Krankheitswert zukommt [7]. Ist dies nicht der Fall, müssen die gesetzlichen Krankenkassen - abgesehen von den besonders geregelten Ausnahmen Empfängnisverhütung, Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch - nicht für medizinische Leistungen aufkommen. Handelt es sich hingegen um eine Krankheit, ist damit dem Patienten noch kein entsprechender Leistungsanspruch zugestanden, gelten doch Ausnahmeregelungen und Einschränkungen. Die wichtigste allgemeine Einschränkung, das so genannte Wirtschaftlichkeitsgebot, nennt der § 12 I SGB V:

„Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.”

Auch wer krank ist, hat demnach keinen Anspruch auf beliebige Leistungen, von denen er sich Erfolg bei der Krankheitsbehandlung erhofft. Die gesetzlichen Kassen haben nur Leistungen zu erstatten, die notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich sind. Zusätzliche Ausnahmen vom generellen Anspruch auf Krankenbehandlung sind in § 34 SGB V festgelegt. Der Abs. 1 dieser Norm benennt eine Reihe so genannter „Bagatellarzneimittel”, die der Gesetzgeber von der generellen Erstattungspflicht ausgenommen hat. Darunter werden Arzneimittel verstanden, „die ihrer Zweckbestimmung nach üblicherweise bei geringfügigen Gesundheitsstörungen verordnet werden” (§ 34, 2 SGB V). Medikamente gegen erektile Dysfunktion fehlen aber in dieser Liste. Gegenwärtig wird eine Revision einiger Passagen von § 34 SGB V unternommen, die im Zusammenhang mit der eventuellen Einführung einer so genannten Positivliste für Arzneimittel im neuen § 33a SGB V steht. Jedoch werden auch nach der Einführung der Positivliste und den damit zusammenhängenden institutionellen Reformen die bisher geltenden grundlegenden materiellen Kriterien der Kassenzulassung von Arzneimitteln gemäß den §§ 11, 12 und 27 SGB V - also die Kriterien der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Suffizienz für Behandlung, Prävention oder Diagnostik von Krankheiten im Rahmen des Wirtschaftlichkeitsgebots - weiterhin gültig sein.

Demnach müssen „zwei Dinge im Mittelpunkt” einer sozialrechtlichen Prüfung der Erstattungspflicht der Krankenkassen für Sildenafil stehen, und zwar ganz unabhängig davon, ob diese Prüfung seitens des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, seitens der Sozialgerichtsbarkeit oder - künftig - seitens des Instituts für die Arzneimittelverordnung erfolgt:

„- Handelt es sich bei der erektilen Dysfunktion um eine Krankheit oder um einen Zustand mit Krankheitswert, die bzw. der im Sinne des SGB V behandlungsbedürftig ist,

- ist das Produkt wirksam, zweckmäßig und notwendig, also wirtschaftlich (Nutzen und Kosten), unter Berücksichtigung von Qualität, Humanität und therapeutischem Fortschritt im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung anwendbar?” [3]

Argumentation des Bundesausschusses

Wer begründen will, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen die Kosten für Viagra nicht tragen müssen, kann also entweder den Krankheitswert der erektilen Dysfunktion gemäß § 27 SGB V bestreiten. Oder er kann die Wirtschaftlichkeit von Sildenafil gemäß § 12 SGB V in Abrede stellen.

Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen verfolgte bei der Begründung seiner Viagra-Entscheidung beide Strategien. Zum einen vertrat er die Ansicht, es gebe keine Möglichkeit, die Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln zur Behandlung erektiler Dysfunktion zu bestimmen. Zum anderen argumentierte der Ausschuss, erektile Dysfunktion sei keine Krankheit, sondern allenfalls eine krankheitsbedingte Folgeerscheinung anderer Krankheiten, die von den Betroffenen „eher subjektiv als Belastung empfunden” werde [4].

Einer „Normung im Sinne der Wirtschaftlichkeit” sei Viagra deshalb entzogen, weil sich der Bundesausschuss außer Stande sehe, allgemeingültige Festlegungen bezüglich der Häufigkeit sexueller Aktivitäten zu treffen. Der Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung ende aber „dort, wo der private Lebensbereich prägend in den Vordergrund trete” [8]. Dieses Argument hat das Sozialgericht Lüneburg mit der Begründung zurückgewiesen; wenn sich der Ausschuss nicht zu einer entsprechenden Leistungseingrenzung im Stande sehe, „wäre die Konsequenz gewesen, das Arzneimittel nicht von der Versorgung auszuschließen, sondern auf eine Konkretisierung zu verzichten” (Az.: S 9 KR 97/99). Zur vermeintlichen Unwirtschaftlichkeit von Sildenafil wurde überdies erwähnt, dass gesetzlich versicherte Betroffene mit dem kassenfinanzierten Medikament möglicherweise einen Schwarzhandel treiben könnten. In seinem SKAT-Urteil hat das Bundessozialgericht dieses Argument beachtet, ohne abschließend dazu Stellung zu nehmen. Vermutlich wird das Bundessozialgericht in der noch ausstehenden Revisionsentscheidung des Lüneburger Falles zur Frage der Wirtschaftlichkeit von Sildenafil Stellung nehmen.

Die zweite Argumentationslinie, wonach es sich bei erektiler Dysfunktion gar nicht um eine Krankheit handelt, hat der Bundesausschuss inkonsequent umgesetzt. Warum sollten dann nur die Formen einer medikamentösen Behandlung auszuschließen sein, nicht jedoch andere Methoden wie Vakuumpumpen und Penisprothesenimplantate? [6].

Zudem konnte sich der Ausschuss auch inhaltlich mit seiner Auffassung nicht durchsetzen. Nicht nur der Berufsverband deutscher Urologen vertrat schon früh die Meinung, dass zumindest einigen Formen erektiler Dysfunktion Krankheitswert zukomme. Auch die Sozialrechtsprechung hat sich mehrheitlich dieser Position angeschlossen, so das Bundessozialgericht in seinem SKAT-Urteil: „Die erektile Dysfunktion, unter der der Kläger leidet, ist eine Krankheit iS des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 27 Abs 1 Satz 1, § 28 Abs 1 Satz 1 SGB V).” (Az: B 8 KN 9/98 KR R) Allerdings scheint nicht eindeutig geklärt zu sein, ob der Leistungsanspruch auf Fälle einer krankheitsbedingten erektilen Dysfunktion beschränkt ist oder ob erektiler Dysfunktion als solcher Krankheitswert zugesprochen werden muss. Zumindest in einem Fall (dem schon erwähnten Urteil des Sozialgerichts Mannheim, a. a. O.) wurde der Leistungsanspruch eines Klägers bejaht, obwohl die Ursache der erektilen Dysfunktion unbekannt war.

Krankheitswert und Leistungsanspruch

Dem Fall „Viagra” kommt exemplarischer Wert zu. Denn die Fragen: „Ist erektile Dysfunktion eine Krankheit?” und „Soll die gesetzliche Krankenversicherung ihre Behandlung finanzieren?” verweisen auf eine Reihe grundlegenderer Schwierigkeiten: Gibt es überhaupt eine allgemein anerkannte und hinreichend präzise Definition von Krankheit, um zu entscheiden, ob erektile Dysfunktion dazuzurechnen ist? Und wenn ja: Warum sollte die Frage, ob erektile Dysfunktion einen Krankheitswert hat, maßgeblich dafür sein, ob die gesetzlichen Krankenkassen ihre Behandlung finanzieren müssen? Lässt sich der Zusammenhang, der in § 27 SGB V hergestellt wird, ethisch begründen - und wenn ja, wie?

Der Krankheitsbegriff im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung

Wenn umstritten ist, ob ein bestimmter Gegenstand unter eine bestimmte Definition fällt, dann kann dies an mangelnder Kenntnis über den Gegenstand oder an einer unpräzisen oder inkonsistenten Definition liegen. Beim Streit um Viagra scheint der zweite Fall vorzuliegen, denn offensichtlich liegen hinreichende Kenntnisse über die erektile Dysfunktion vor. Ätiologie, Häufigkeitsverteilung und psychosoziale Folgen sind gut erforscht und verschiedene Therapien stehen zur Verfügung. Über manchen Zustand, der allgemein als Krankheit anerkannt wird, ist weniger bekannt. Das Problem scheint offenbar darin zu liegen, dass wir nicht genau wissen, was der Begriff „Krankheit” überhaupt bedeutet. Jedenfalls nicht genau genug.

Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung existiert, wie auch in anderen Rechtsbereichen, keine Legaldefinition des Krankheitsbegriffs [9]. „Krankheit” ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Interpretationsspielräume „durch Rechtsprechung und Praxis auszufüllen” sind [1012]. Aber woran können die Sozialgerichte sich bei ihrer Interpretation des Krankheitsbegriffs orientieren? Und woran sollten sie sich orientieren, um nicht nur zu Entscheidungen, sondern zu legitimen Entscheidungen zu kommen?

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Definitionen, die sich in der Rechtsprechung, vor allem durch die Entscheidungen des Bundessozialgerichts, zur herrschenden Lehre entwickelt haben. Demnach

„ist unter Krankheit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung ein regelwidriger … Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, der ärztlicher Behandlung bedarf oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (vgl. BSG vom 13. Februar 1975, BSGE 39, 167, 168 mwN - schwangerschaftsverhütende Mittel bei medizinischer Indikation -; BSG vom 20. Oktober 1972, BSGE 35, 10, 12 - Kiefer- oder Zahnstellungsanomalie -; BSG vom 28. April 1967, BSGE 26, 240, 242 f - Einengung der Zeugungsfähigkeit; entsprechend auch die Begründung zu § 27 SGB V im Entwurf zum Gesundheits-Reformgesetz <GRG>, BT-Drucks 11/2237, S 170).” (SKAT-Urteil des BSG, Az: B 8 KN 9/98 KR R; vgl. auch Laufs 1993, S. 12, Anm. 42; Höfler, Kasseler Kommentar, Stand Februar 1997, § 27 SGB V Rdnr 9 mwN).

Als regelwidrig gilt dabei ein Körper- oder Geisteszustand, der von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm abweicht (vgl. BSGE 26, 240, 242; Schroeder-Printzen, WzS 1979, 129, 132; Fichte ZfS 1993, 97, 100). Als behandlungsbedürftig wird ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand angesehen, sofern er nicht ohne ärztliche Hilfe behoben, gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt werden kann, oder wenn ärztliche Behandlung erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern oder das Leben des Patienten zu verlängern (BSGE 26, 288, 289; DOK 1966, 364, 366; BSG, Urteil vom 20. Oktober 1972 - Az: 3 RK 92/71 - in SozR Nr. 52 zu § 182 RVO). Die Rechtsprechung nutzt demzufolge verschiedene Elemente, um einem Zustand Krankheitswert zuzuschreiben. Diese seien im Folgenden untersucht.

Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit

Wie bereits zitiert, wertet das BSG nur denjenigen „regelwidrige[n] Körper- oder Geisteszustand” als Krankheit, „der ärztlicher Behandlung bedarf oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat” (a. a. O.). Die Bezugnahme auf Arbeitsunfähigkeit scheint für viele Fälle unproblematisch zu sein. Man sollte jedoch nicht verschweigen, dass es sich bei diesem Kriterium häufig um ein Resultat aus Zumutbarkeitserwägungen handelt, das weit von einer Präzisierbarkeit entfernt ist. In der Praxis stellt sich nicht immer die Frage, ob der Patient arbeitsfähig ist, sondern: „Ist es bei diesem Zustand noch zumutbar, Lohnarbeit zu verrichten?” Zudem ist der Umkehrschluss unzulässig: Nicht jeder regelwidrige Körper- und Geisteszustand, der Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat, ist eine Krankheit. Kurzum: Das Kriterium „Arbeitsunfähigkeit” ist für viele Fälle unscharf und zudem weder hinreichend noch notwendig.

Auf andere Weise problematisch ist das Kriterium der Behandlungsbedürftigkeit. Denn unter Berufung auf den Krankheitswert des jeweiligen Körper- oder Geisteszustandes soll ja gerade erst gerechtfertigt werden, dass tatsächlich ein - sozialrechtlich verstandener - Behandlungsbedarf besteht, dem Ansprüche der Versicherten und Verpflichtungen der Leistungserbringer entsprechen. Der Behandlungsbedarf als definitorisches Merkmal des Krankheitsbegriffs birgt daher die Gefahr eines logischen Zirkels bzw. einer Tautologie: Versicherte haben Anspruch auf Behandlung derjenigen Körper- oder Geisteszustände, die der Behandlung bedürfen. Welche Zustände dies jedoch sind, kann aus einem derartigen Krankheitsbegriff nicht abgeleitet werden. [13].

Ein begrifflich-logischer Zirkel kann freilich durch die Klarstellung vermieden werden, dass die Rede von „Behandlungsbedarf” in der Definition des Krankheitsbegriffs nicht schon im Sinne eines sozialrechtlichen Bedarfs (mit den korrespondierenden Leistungsansprüchen und -pflichten) zu verstehen ist, sondern in anderer Weise. Dann stellt sich die Anschlussfrage, wie dieses nicht sozialrechtlich (sondern beispielsweise „rein medizinisch” - oder ethisch?) geprägte Verständnis von „Behandlungsbedarf” aussehen könnte. Versucht man jedoch, den Begriff des Behandlungsbedarfs in einem „medizinischen” Sinne zu interpretieren, stellt man fest, dass hier die Festlegung des Behandlungsbedarfs in der Regel wiederum an die Feststellung des Krankheitswerts physischer oder psychischer Zustände und damit zumindest indirekt wieder an ein allgemeines Krankheitskonzept gebunden ist [14][15]. Den Behandlungsbedarf zum Bestandteil der Definition des Krankheitsbegriffs im Sinne des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung zu machen, läuft demnach entweder auf eine Tautologie oder auf eine bloße Problem- und Kompetenzverschiebung (aus dem Bereich des Sozialrechts in den Bereich der Medizin) hinaus. Beides trägt nicht zu mehr Rechtssicherheit bei. Kurzum: Das Kriterium der Behandlungsbedürftigkeit erzeugt mehr Fragen, als es klären könnte.

Regelwidrigkeit

Zentrale Bedeutung kommt in der zitierten Formel dem Konzept der Regelwidrigkeit zu. Dies entspricht einer verbreiteten Deutung, wonach Krankheit grundsätzlich als Normabweichung verstanden werden müsse. Umstritten ist allerdings die Anschlussfrage, in welchem Sinne Regelhaftigkeit bzw. Normalität verstanden werden muss: „Will man … die Abweichung von einer Norm oder Regel als Kriterium einführen, dann muss deutlich werden, was hier unter Norm oder Normalität verstanden werden kann” [14][1618]. Handelt es sich um einen statistischen Begriff im Sinne eines Durchschnittswertes? Oder ist ein wertender (evaluativer) oder vorschreibender (präskriptiver) Sinn von Normalität gemeint? Und, wenn Letzteres zutrifft: Woher werden die impliziten Wertungen bzw. Gebote bezogen? Sind sie aus dem System der positiven und/oder Grundrechtsnormen zu schöpfen? Sind sie Gegenstand der biomedizinischen Erkenntnis oder der moralphilosophischen Erkenntnis? Entstammen sie der Selbstdeutung und freien Bewertung der Betroffenen? Oder der Arzt-Patient-Kommunikation? Oder sind sie Produkte gesellschaftlicher Zuschreibung (eines sozialen „labelling”) oder Resultate politischer Setzung?

In der medizintheoretischen und philosophischen Diskussion zum Krankheitsbegriff sind alle genannten Positionen vertreten worden, ohne dass sich eine einzelne hätte durchsetzen können. Entsprechend ist auch die Frage, welche dieser Deutungen im Sozialrecht angemessen wäre, bislang ungeklärt.

Der Ausdruck „Regelwidrigkeit” selbst scheint am ehesten auf einen statistischen, vermeintlich neutralen Normbegriff hinzudeuten. Eine rein statistische Deutung der krankheitsrelevanten Regelwidrigkeit bringt jedoch kaum lösbare Probleme mit sich. Erstens lassen sich gegen die Gleichsetzung von Regelabweichung und Krankheit Gegenbeispiele anführen. Einerseits gibt es zahllose Abweichungen von der Durchschnittsnorm, die wir nicht als Krankheit werten. So wird nicht krank genannt, wer eine seltene Blutgruppe oder eine ausgefallene Augenfarbe hat, überdurchschnittlich intelligent ist oder über das absolute Gehör verfügt. Andererseits gibt es Zustände, die wir als krankhaft bezeichnen würden, obwohl sie rein statistisch gesehen die Regel und nicht die Ausnahme sind. Das Standardbeispiel sind kariesbefallene Zähne, aber auch Arteriosklerose oder Bewegungsmangelkrankheiten lassen sich anführen [19][20]. Zweitens stellt sich die Frage, wer jeweils als Bezugsgruppe einer entsprechenden statistischen Erhebung zu gelten hätte. Einerseits wäre es in vielen Fällen absurd, die Normalitätsdefinition auf den Durchschnitt der Gesamtbevölkerung zu beziehen: Das elf Monate alte Kind ist nicht krank, wenn sein Sprachvermögen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung unterdurchschnittlich ist. Umgekehrt kommt es aber sofort „zu einem bunten Normalitätsreigen des Neugeborenen, des Greises, des Sportlers usw.” [21] - oder auch der Schwangeren [14][22] -, sobald man eine differenziertere Zuordnung versucht.

Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen „normalen” Alterserscheinungen und Krankheit. Sie ist sowohl medizinisch schwer fassbar [22][23] als auch umstritten im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung: Zwar wird vielfach die Auffassung vertreten, die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen beziehe sich nicht auf Maßnahmen, die gegen „normale” Alterserscheinungen gerichtet sind [24]; die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts steht mit dieser Auffassung jedoch teilweise nicht im Einklang. So im SKAT-Urteil des BSG:

„Das BSG hat bereits entschieden, dass als Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung solche Regelwidrigkeiten nicht ausgeschlossen sind, die auf einen Alterungsprozess zurückzuführen sind … So ist auch bei Alterserscheinungen wie der Minderung des Seh- und Hörvermögens und ähnlichen Erscheinungen unbestritten, dass insoweit die gesetzliche Krankenversicherung einzustehen hat (Höfler, aaO RdNr 14 mwN).” (Az: B 8 KN 9/98 KR R)

Kurzum: Auch das Kriterium der Regelwidrigkeit ist kaum geeignet, um den Krankheitswert eines Zustandes zu bestimmen.

Leitbild des gesunden Menschen

Wie oben bemerkt, ist der Begriff der Regelwidrigkeit nach herrschender Lehre als Abweichung vom Leitbild des gesunden Menschen zu verstehen. Diese Formulierung geht auf eine Entscheidung des BSG zur Bewertung eingeschränkter männlicher Fertilität aus dem Jahre 1967 zurück (Entscheidung vom 28.4.1967, BSGE 26, 240). Nach Wolfgang Mazal wird mit dieser Entscheidung „zum ersten Mal eine nähere Auseinandersetzung mit dem [Kriterium der] Regelwidrigkeit” versucht [25].

Da die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit im Rechtssystem als eine vollständige Dichotomie aufgefasst wird (wer nicht krank ist, ist gesund und umgekehrt), ist der Verweis auf Gesundheit bei einer Erläuterung des Krankheitsbegriffs unfruchtbar: Die Aussage, dass Krankheit eine Abweichung vom Zustand der Gesundheit darstellt, fügt dem Krankheitsbegriff nichts hinzu, solange eine Definition von „Gesundheit” mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat wie die von „Krankheit”.

Mit dem Leitbildkonzept wird hingegen ein neues Element in die Definition eingeführt, das über eine rein statistische Deutung der Regelwidrigkeit hinauszuweisen scheint in die Richtung einer wertenden (evaluativen) oder auch soziologischen Interpretation des Krankheitsbegriffs. Nach Ruth Schimmelpfeng-Schütte wird durch die Bezugnahme auf das Leitbildkonzept „der Umfang des Versicherungsrisikos der GKV abhängig vom Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen”, ändern sich doch die Vorstellungen vom Leitbild [26]. Einen derart „dynamischen Krankheitsbegriff” (ebd.) zugrunde zu legen würde allerdings bedeuten, dass die Sozialrechtsprechung sich den gesellschaftlichen und medizinisch-technischen Entwicklungen anpassen müsste. Die Steuerungsfunktion des Sozialrechts würde sich darauf beschränken, Ansprüche dort abzuweisen, wo sie (noch) nicht von einer breiten gesellschaftlichen Erwartungshaltung getragen werden. Der sozialrechtliche Krankheitsbegriff hätte im Grunde seine eigenständige normative Substanz verloren.

Das Bundessozialgericht hat sich allerdings bemüht, diese Konsequenz zu vermeiden. In einer Entscheidung des 3. Senats des BSG wurde das Leitbildkonzept dahingehend interpretiert, dass „nicht jede Abweichung von der [...] Idealnorm [...] schon eine Regelwidrigkeit im Sinne des aufgezeigten Krankheitsbegriffes dar[stellt]” (BSGE 35, 10, 12). Vielmehr bedinge erst das Vorliegen von Funktionsstörungen die Regelwidrigkeit. Regelwidrigkeit liege erst dann vor, wenn eine wesentliche körperliche oder psychische Funktion nicht (mehr) im befriedigenden Umfang ausgeübt werden kann [25], (Schroeder-Printzen, WzS 1979, 129, 132f., 137). Woran bemisst sich aber, ob der Umfang der Funktionsausübung „befriedigend” ist? Was sind „wesentliche” Funktionen? Ist der Funktionsbegriff überhaupt ein objektiver Begriff? Oder sind Funktionszuschreibungen immer auf Wertungen bezogen? Kurzum: Das Kriterium des „Leitbilds des gesunden Menschen”, allein oder ergänzt durch das Kriterium der Funktionsstörung, kann für sich genommen zum Krankheitswert eines Zustandes keinen ausschlaggebenden Beitrag leisten.

Krankheitskonzepte in der Medizintheorie

Da die Gesetzgebung und die Rechtsprechung offenbar in Schwierigkeiten geraten, wollen sie „Krankheit” inhaltsvoll, randscharf und umfassend definieren, liegt es nahe, in anderen Disziplinen Hilfestellung zu suchen. In Medizintheorie und Philosophie ist jedoch gleichermaßen umstritten, welche Elemente eine Definition von Krankheit zu berücksichtigen hat. Der Versuch, zur Klärung des Krankheitsbegriffs auf externe Fachkompetenz zurückzugreifen, führt überdies unweigerlich in ein Gutachterdilemma. Bislang existiert kein einheitliches, allgemein akzeptiertes und hinreichend präzises Krankheitskonzept, das nur zu übernehmen wäre, sondern eine Pluralität konkurrierender, miteinander unvereinbarer Interpretationen.

Grob lässt sich zwischen naturalistischen und nichtnaturalistischen Krankheitskonzepten unterscheiden. Dem naturalistischen Krankheitsverständnis zufolge sind Urteile über den Krankheitswert physischer oder psychischer Zustände als rein deskriptive, wertneutrale naturwissenschaftliche Urteile zu verstehen, die unabhängig von individuellen oder sozialen Werten und moralischen Normen getroffen werden können. Für nichtnaturalistische Deutungen basieren Krankheitszuschreibungen hingegen immer auf Werten oder Normen.

Naturalistische Krankheitsdeutung

Die bedeutendste unter den naturalistischen Krankheitskonzeptionen ist das biostatistische Krankheitsmodell von Christopher Boorse. Er definiert Krankheit im theoretischen Sinn („disease”) als Abweichung eines biologischen Organismus vom Zustand der „normalen Funktionsfähigkeit”, der sich bei der betreffenden „Referenzklasse” dieses Organismus feststellen lässt. Mit dem Begriff der „normalen Funktionsfähigkeit” nimmt Boorse einen statistischen Normalitätsbegriff in Anspruch. Anders als in der rein statistischen Deutung des Krankheitskonzepts begreift er Organismen jedoch als funktional integrierte Einheiten, die intern zielgerichtet organisiert sind, wobei als Ziele individuelles Überleben und Reproduktion angesetzt werden. Entsprechend wird nicht jede beliebige Abweichung von einem statistischen Mittelwert als krankhaft interpretiert, sondern nur diejenige Normabweichung, welche die Erfüllung speziestypischer Organ- oder Organismusfunktionen be- oder verhindert.

Gegen Boorses Modell wird zweierlei eingewandt: Erstens kann auch dieses Modell die Schwierigkeiten der rein statistischen Deutung nicht vollständig beheben. Denn auch im Rahmen dieses Modells ist es nicht ohne weiteres möglich, sehr weit verbreiteten, statistisch „normalen” Funktionseinschränkungen - wie etwa Karies oder Arteriosklerose - Krankheitswert zuzuerkennen. Zudem ist die jeweilige Referenzklasse altersspezifisch. „Normale” Alterserscheinungen werden also prinzipiell nicht als Krankheit verstanden, auch wenn sie mit schwerwiegenden Funktionsbeeinträchtigungen verbunden sind. Der zweite Einwand zielt auf Boorses Behauptung, dass sich Funktionen „wertfrei” feststellen ließen. Vielmehr handele es sich um eine vorgängige, wertende Deutung, wenn als Organismusziele individuelles Überleben und Reproduktion angesetzt werden (vgl. zum Hintergrund [27]). Dementsprechend unterliegt auch Boorse einer häufig anzutreffenden Zirkularität, indem man „das, was man definieren wollte, dem Sinn nach bereits vorausgesetzt” hat [28].

Nichtnaturalistische Krankheitskonzepte

Die Vertreter nichtnaturalistischer Krankheitskonzepte sind sich darin einig, dass Krankheit nicht vollständig definiert werden kann, ohne auf wertende (evaluative) und/oder vorschreibende (präskriptive) Urteile zu rekurrieren. Abgesehen davon bestehen zahlreiche Differenzen zwischen nichtnaturalistischen Krankheitskonzepten. Von Naturalisten wird oft unterstellt, dass nichtnaturalistische Krankheitsdeutungen stets „relativistisch” sein müssten; sie könnten folglich keine interkulturell gültigen Krankheitskriterien beinhalten. Nicht alle Vertreter einer nichtnaturalistischen Krankheitskonzeption sind jedoch - ihrem Selbstverständnis nach - Relativisten [29]. Während einige Nichtnaturalisten unter Verweis auf die historischen Wandlungen im Krankheitsverständnis (etwa der Entpathologisierung von Masturbation oder Homosexualität) in der Tat dazu tendieren, Krankheitszuschreibungen tout court als Ausdruck kontingenter Präferenzen zu betrachten, gehen andere davon aus, dass mit den Wertungen bzw. Normen, auf die bei Krankheitszuschreibungen rekurriert wird, zumindest teilweise ein Anspruch auf objektive Gültigkeit verbunden ist.

Nichtnaturalistische Krankheitskonzepte unterscheiden sich untereinander in mindestens drei Hinsichten: erstens bezüglich der Frage, wessen Wertungen bzw. Normierungen es sind, auf die im Rahmen des Krankheitskonzepts jeweils rekurriert wird; zweitens bezüglich der Frage, welcher Art diese Wertungen bzw. Normierungen sind, und schließlich drittens in Bezug auf die Frage, welche Bedeutung den Werturteilen bzw. Normen im Rahmen des Gesamtkonzepts zukommt. Die erste Frage wird von manchen Nichtnaturalisten mit dem Hinweis auf die jeweils Betroffenen (Patientinnen bzw. Patienten) beantwortet [30], von anderen mit dem Hinweis auf die Gesellschaft oder bestimmte politische Akteure [31] (vgl. auch [21]) und wieder andere sehen die entscheidenden Wertungen aus Aushandlungsprozessen in der Arzt-Patient-Kommunikation hervorgehen [32][14]. Nicht weniger bedeutsam sind Unterschiede bezüglich der Frage nach der „Natur” der Werte und/oder Normen, auf die Nichtnaturalisten rekurrieren. Diese werden teilweise als subjektive Präferenzen verstanden [30], teilweise als Werte im Sinne einer quasi-aristotelischen Theorie natürlicher Güter [33], teilweise als universell gültige Normen im Sinne einer deontologischen Ethik [17]. In Bezug auf die Bedeutung, die den Wert- oder Normurteilen im Rahmen der Krankheitskonzepte insgesamt zugesprochen wird, unterscheidet schon Boorse [19] zwischen „stark” und „schwach normativistischen” Krankheitskonzepten: Während Erstere in Krankheitszuschreibungen ausschließlich einen Ausdruck von Werturteilen oder normativen Urteilen sehen, sehen die Vertreter eines „schwachen Normativismus” Krankheitsurteile als „gemischte” Urteile an, in denen sowohl deskriptive als auch evaluative bzw. präskriptive Anteile enthalten sind; die Art und Weise, in der diese Elemente aufeinander bezogen sind, kann dabei wiederum sehr unterschiedlich sein.

Rechtsethische Überlegungen

Die Formeln, die die Sozialrechtsprechung zur Interpretation des Krankheitsbegriffs im Sinne des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung entwickelt hat, führen entweder zu abwegigen Resultaten, sind zirkulär oder lassen derart weite Interpretationen zu, dass sie unpräzise werden. Entsprechend können sie keinen überzeugenden Beitrag zur Eingrenzung der Leistungsansprüche gesetzlich Versicherter in strittigen Fällen leisten. Eine Kombination der verschiedenen, in der Rechtsprechung genannten Kriterien scheint die Probleme gleichermaßen nicht zu lösen. Denn zum einen müsste der Modus der Kombination selbst gerechtfertigt werden und zum anderen darf man aus der Kombination unscharfer und zirkulärer Kriterien nicht erwarten, dass genau diese Eigenschaften verschwinden würden.

Damit nicht genug: Auch in Medizintheorie und Philosophie existiert kein allgemein anerkanntes Krankheitskonzept, das nur übernommen werden müsste, sondern eine Vielfalt von Deutungsvorschlägen. Woran also kann und soll sich angesichts dessen die Sozialgesetzgebung orientieren?

Unseres Erachtens kann man über das Problem nur dann einige Klarheit gewinnen, wenn man vom Regelungszweck ausgeht, der dem Krankheitsbegriff im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung zukommt. Der Krankheitsbegriff soll hier ja zur Begründung und Begrenzung von Ansprüchen auf medizinische Leistungen dienen. Rechtssicherheit und Legitimität sozialrechtlicher Entscheidungen können deshalb nur gewonnen werden, soweit geklärt werden kann, welche Elemente in dem jeweils zugrunde gelegten Krankheitsbegriff es sind, die für die Begründung dieser Ansprüche Bedeutung haben; oder, kurz gesagt: worin die normative Relevanz des Krankheitsbegriffs besteht.

Ein Krankheitsbegriff, dem die Rolle eines tragenden Legitimationskonzepts zukommen soll, die ihm im Sozialrecht zugewiesen wird, muss demnach nicht einfach nur irgendeinen hinreichend präzise bestimmbaren Gehalt haben. Er muss auch verständlich werden lassen, warum diejenigen und (in aller Regel) nur diejenigen, die krank sind, ein Recht auf sozial finanzierte medizinische Behandlung haben. Der sozialrechtliche Krankheitsbegriff müsste also, um im vorliegenden Kontext „brauchbar” zu sein, einen internen Bezug zu den tragenden Normen des Sozialrechts aufweisen. Und er sollte überdies zu einer Antwort auf die Frage „Wer hat ein Recht auf (solidarisch finanzierte) medizinische Behandlung?” beitragen können, die auch in ethischer Perspektive überzeugen kann. Alle diese Anforderungen können gegenwärtig nicht als erfüllt betrachtet werden - zumindest diese Lehre lässt sich aus dem Fall Viagra ziehen. Und da keineswegs ausgeschlossen ist, dass diese Ansprüche auch gar nicht erfüllt werden können, bliebe zu klären, ob nicht jenseits des Krankheitsbegriffs nach Wegen gesucht werden sollte, die die Zuweisung und Begrenzung von sozial finanzierten Dienstleistungen im Gesundheitswesen überzeugend regeln. Dann hätte der Fall Viagra zur Eröffnung ganz neuer Vorgehensweisen beigetragen.

Literatur

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23 Relations Between Normal Aging and Disease. Raven Press New York  1985  

24 Seewald O. Krankheit: Recht. Herder Lexikon Medizin, Ethik, Recht. Freiburg, Basel, Wien  1989; XX:  

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28 Wieland W. Grundlagen der Krankheitsbetrachtung. Springer Geistige Grundlagen der Medizin. Berlin u.a  1985; 41-50   

29 Reznek L. The Nature of Disease. Routledge & Kegan Paul London  1987  

30 Nordenfelt L. On the Nature of Health: An Action-Theoretic Approach. D. Reidel Dordrecht  1987  

31 Margolis J. The Concept of Disease. The Journal of Medicine and Philosophy  1976; 1: 238-255   
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32 Honnefelder L. Humangenetik und Pränataldiagnostik: Die normative Funktion des Krankheits- und Behinderungsbegriffs: Ethische Aspekte. Walter de Gruyter Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik. Berlin, New York  1996; Band 1: 121-127   

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