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Werner, Micha H. (2002):

Viagra - rechtliche und ethische Fragen

Nicht zitierfähige Manuskriptversion.
Eine PDF-Version finden Sie hier.
Eine zitierfähige Fassung ist erschienen in: Ärzteblatt Baden-Württemberg 81 (10/2002)
Sonderseiten Ethik in der Medizin.


Einleitung

Im März 1998 wurde Sildenafil von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) für die Behandlung der erektilen Dysfunktion zugelassen. Diese Entscheidung löste auch in Deutschland heftige Diskussionen und rege Betriebsamkeit der gesundheitspolitischen Funktionsträger aus. Einen Tag vor dem eurpäischen Verkaufsstart für Viagra trat hierzulande eine Ergänzung der Arzneimittelrichtlinie in Kraft. "Arzneimittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion und Mittel, die der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz dienen", durften nun nicht mehr auf Kassenrezept verordnet werden (Nr. 17.1 Buchstabe f AMRL). Dies bedeutete eine Einschränkung des Leistungsspektrums der GKV durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, denn zuvor waren vergleichbare Mittel - z.B. Medikamente zur Schwellkörper-Autoinjektionstherapie [SKAT] - von den gesetzlichen Kassen übernommen worden. Nun waren medikamentöse Mittel ausgeschlossen; Penisprothesenimplantate, Vakuumpumpen und Psychotherapie sollten aber weiter finanziert werden.

Die Entscheidung des Bundesausschusses wurde sofort Gegenstand heftiger Kontroversen. Im Vordergrund standen zwei Fragen. Erstens: War der Bundesausschuss zu einer Einschränkung des Leistungsspektrums überhaupt befugt? Zweitens: Sind die Argumente für den Leistungsausschluss überzeugend? Mit der zweiten Frage sind einige interessante Grundsatzprobleme verbunden. Ehe diese näher betrachtet werden, muss aber der Hintergrund etwas genauer ausgeleuchtet werden.

Ökonomischer Hintergrund

Maßgeblich für die Entscheidung des Bundesausschusses war die Furcht vor Mehrbelastungen für die GKV. Die Schätzungen schwankten allerdings zwischen 160 Millionen (Schneider-Danwitz and Glaeske 1999) und 52,5 Milliarden (Krimmel 1998) D-Mark. Die erheblichen Differenzen sind v.a. durch unterschiedliche Annahmen über den Kreis der Anspruchberechtigten zu erklären. Annette Schneider-Danwitz und Gert Glaeske gehen davon aus, dass nur die ca. 80.000 Männer anspruchsberechtigt wären, die an einer krankheitsbedingten erektilen Dysfunktion leiden. Deutlich höhere Zahlen ergeben sich, wenn man allen von erektiler Dysfunktion Betroffenen - nach Volkmar Sigusch etwa acht Millionen (Sigusch 2000) - einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für Viagra zuspricht. Weitere Unterschiede ergeben sich durch die als erstattungspflichtig unterstellte Sildenafil-Menge pro Versichertem.

Kompetenzen des Bundesausschusses

Ob der Bundesausschuss mit der sogenannten 'lex viagra' seine Kompetenzen überschritten hat, ist umstritten. Die Sozialgerichte bejahen dies mehrheitlich. So gab das Bundessozialgericht (BSG) genau ein Jahr nach Inkrafttreten der Neufassung der AMRL einem 61jährigen Kläger mit gefäßbedingter erektiler Dysfunktion recht, der die Bundesknappschaft auf Kostenerstattung für das Medikament Prostavasin zur SKAT verklagt hatte (B 8 KN 9/98 KR R - L 2 Kn 36/95). Das BSG vertrat die Auffassung, dem Urteil stünden die AMRL "auch in ihrer ab 30.9.1998 geltenden Fassung nicht entgegen"; die einschlägigen Passagen seien "unwirksam, da sie von ihrer Ermächtigungsnorm nicht gedeckt" seien. Auch das Landessozialgericht Baden-Württemberg verurteilte Ende 2001 die AOK zur Erstattung der Kosten für Sildenafil mit der Feststellung: "Der Bundesausschuss war nicht berechtigt, Viagra auszuschließen" (L 4 KR 4360/00).

Sozialrechtliche Kriterien

Über eine Eingrenzung des Leistungsspektrums könnte freilich auch der Gesetzgeber selbst entscheiden. Auch spezifische Gesetzesvorschriften müssen freilich die Kohärenz des Sozial- und natürlich erst recht die des Grundrechtssystems wahren.

Welche Pflichtleistungen die gesetzlichen Krankenversicherungen zu erbringen haben, regelt derzeit das fünfte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V). In ? 11 SGB V heisst es: "Versicherte haben Anspruch auf Leistungen [...] zur Verhütung von Krankheiten und von deren Verschlimmerung sowie zur Empfängnisverhütung, bei Sterilisation und bei Schwangerschaftsabbruch [...] zur Früherkennung von Krankheiten" sowie "zur Behandlung einer Krankheit". Für die Frage, ob gesetzlich Versicherte einen Rechtsanspruch auf die Erstattung von Behandlungskosten haben, ist also in den meisten Fällen entscheidend, ob es sich bei dem behandelten Körper- oder Geisteszustand um eine Krankheit im Sinne der ?? 11 und 27 SGB V handelt. Der Krankheitswert eines Zustands allein rechtfertigt allerdings noch keinen Leistungsanspruch. Denn das sogenannte Wirtschaftlichkeitsgebot in ? 12 SGB V schränkt ein: "Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten."

Argumentation des Bundesausschusses

Wer begründen will, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen die Kosten für Viagra nicht tragen müssen, kann demnach entweder die Wirtschaftlichkeit von Sildenafil gemäß ? 12 SGB V bestreiten. Oder er kann bestreiten, dass es sich bei der erektilen Dysfunktion überhaupt um eine Krankheit i.S. des SGB V handelt.

Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hat beides versucht. Zum einen vertrat er die Ansicht, es gebe keine Möglichkeit, die Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln zur Behandlung erektiler Dysfunktion zu bestimmen. Zum anderen argumentierte er, erektile Dysfunktion sei keine Krankheit, sondern allenfalls eine krankheitsbedingte Folgeerscheinung anderer Krankheiten, die von den Betroffenen "eher subjektiv als Belastung empfunden" werde.

Einer "Normung im Sinne der Wirtschaftlichkeit" sei Viagra entzogen, weil der Bundesausschuss keine allgemeingültigen Festlegungen bezüglich der zu beanspruchenden Häufigkeit sexueller Aktivitäten treffen könne. Der Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung ende "dort, wo der private Lebensbereich prägend in den Vordergrund trete" (Korzilius 1998). Dieses Argument hat das Sozialgericht Lüneburg mit der Begründung zurückgewiesen, wenn sich der Ausschuss nicht zu einer entsprechenden Leistungseingrenzung imstande sehe, "wäre die Konsequenz gewesen, das Arzneimittel nicht von der Versorgung auszuschließen, sondern auf eine Konkretisierung zu verzichten" (S 9 KR 97/99)

Auf die Frage des Krankheitswerts der erektilen Dysfunktion, werden wir noch zurückkommen. Vorab ist festzuhalten, dass die Position des Bundesausschusses in diesem Punkt inkonsequent ist. Es ist widersprüchlich, den Krankheitswert der erektilen Dysfunktion zu bestreiten, zugleich aber an der Kostenerstattung für Behandlungsmethoden wie Vakuumpumpen, Penisprothesenimplantate und Psychotherapie festzuhalten (Sigusch 2000, S. 331). Inhaltlich konnte sich der Ausschuss mit seiner Auffassung, erektile Dysfunktion sei keine Krankheit, nicht allgemein durchsetzen. So plädierte der Berufsverband deutscher Urologen dafür, zumindest einigen Formen erektiler Dysfunktion Krankheitswert zuzuerkennen. Entscheidend war aber, dass sich die Sozialgerichte mehrheitlich gegen die Auffassung des Bundesausschusses stellten. Unmissverständlich formulierte das BSG in der bereits zitierten Entscheidung: "Die erektile Dysfunktion, unter der der Kläger leidet, ist eine Krankheit iS des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung." (B 8 KN 9/98 KR R)

Aktuelle Rechtslage

Gleichwohl ist die Rechtslage nicht ganz klar. Die gesetzlichen Krankenkassen orientieren sich weiterhin an den revidierten Arzneimittelrichtlinien. Wer einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für Sildenafil geltend machen will, muss in der Regel den Klageweg beschreiten. Zwar mehren sich einschlägige Urteile zugunsten der Versicherten. Eine höchstrichterliche Entscheidung, die zum Präzedenzfall hätte werden können, hat die Techniker-Krankenkasse aber im Juli letzten Jahres verhindert, indem sie ihre Revision gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg in letzter Minute zurückzog (B 1 KR 19/00 R).

Auch die Position der Sozialgerichte ist indes nicht ganz einheitlich. Unklar ist vor allem, ob ein Leistungsanspruch nur für den Fall einer krankheitsbedingten erektilen Dysfunktion zu bejahen ist (z.B. bei Diabetikern oder MS-Patienten) oder ob der erektilen Dysfunktion als solcher Krankheitswert zuerkannt wird. Letzteres würde bedeuten, dass auch eine altersbedingte erektile Dysfunktion oder eine erektile Dysfunktion unbekannten Ursprungs einen Behandlungsanspruch begründen könnte. In zumindest einem Fall wurde der Anspruch eines Klägers bejaht, obwohl die Ursache seiner erektilen Dysfunktion unbekannt war (S 10 KR 2991/99).

Weiterführende Fragen

Der Streit um Viagra ist von exemplarischer Bedeutung. Denn er verweist auf die folgenden, auch in anderen Kontexten entscheidenden Fragen: Gibt es überhaupt einen plausiblen und hinreichend präzisen Krankheitsbegriff, um zu entscheiden, ob die erektile Dysfunktion eine Krankheit ist? Und wenn wir annehmen, es gebe einen solchen Krankheitsbegriff - warum sollte dann die Frage, ob erektile Dysfunktion Krankheitswert hat, maßgeblich dafür sein, ob die gesetzlichen Krankenkassen ihre Behandlung finanzieren müssen? Lässt sich der sozialrechtlich fixierte Zusammenhang zwischen Krankheitswert und Behandlungsanspruch rechtfertigen - und, wenn ja, wie?

Der sozialrechtliche Krankheitsbegriff

"Krankheit" ist im Sozialrecht ein unbestimmter Rechtsbegriff, der durch die Rechtsprechung interpretiert werden muss (vgl. Seewald 1981, Kap. 1; sowie v.a. Mazal 1992). Nach herrschender Meinung "ist unter Krankheit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung ein regelwidriger [...] Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, der ärztlicher Behandlung bedarf oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat" (B 8 KN 9/98 KR R). Als regelwidrig gilt dabei ein 'Körper- oder Geisteszustand, der von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm abweicht'. Als 'behandlungsbedürftig' wird ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand betrachtet, "sofern er nicht ohne ärztliche Hilfe behoben, gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt werden kann, oder wenn ärztliche Behandlung erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern oder das Leben des Patienten zu verlängern" (3 RK 92/71).

Grundlegend ist das Kriterium der Regelwidrigkeit. Dies entspricht der verbreiteten Auffassung, wonach Krankheit grundsätzlich als Abweichung vom Normalen verstanden werden muss. Umstritten ist aber die Anschlussfrage, in welchem Sinne Regelhaftigkeit bzw. Normalität zu verstehen ist. Handelt es um einen statistischen Begriff im Sinne eines Durchschnittswertes? Oder ist ein wertender (evaluativer) oder vorschreibender (präskriptiver) Sinn von Normalität gemeint? Und, wenn letzteres zutrifft: Woher werden die Werte bzw. Normen bezogen? Sind sie aus dem System der positiven und/oder Grundrechtsnormen zu schöpfen? Sind sie Gegenstand der biomedizinischen Erkenntnis? Oder der moralphilosophischen Erkenntnis? Entstammen sie der Selbstdeutung und freien Bewertung der Betroffenen? Oder der Arzt-Patient-Kommunikation? Oder sind sie Produkte gesellschaftlicher Zuschreibung (eines sozialen 'labelling') oder Resultate politischer Setzung? Alle genannten Positionen sind in der medizintheoretischen und philosophischen Diskussion über den Krankheitsbegriff vertreten worden, ohne dass sich eine einzelne hätte durchsetzen können (zur Übersicht vgl. Lanzerath 2000).

Eine rein statistische Deutung des Krankheitsbegriffs ist nicht überzeugend: Zahllose Abweichungen von der Durchschnittsnorm werten wir nicht als Krankheit (seltene Augenfarbe, überdurchschnittliche Intelligenz, absolutes Gehör) und viele Zustände, die wir als krankhaft bezeichnen, sind statistisch gesehen die Regel (kariöse Zähne, Arteriosklerose, Übergewicht und andere Bewegungsmangelkrankheiten).

Dass "Regelwidrigkeit" nicht im rein statistischen Sinne verstanden werden darf, hat auch das Bundessozialgericht im Zusammenhang mit der - ihrerseits unbestimmten - Formel vom "Leitbild des gesunden Menschen" anerkannt. Regelwidrigkeit liege erst dann vor, wenn eine wesentliche körperliche oder psychische Funktion nicht (mehr) im befriedigenden Umfang ausgeübt werden könne (vgl. Mazal 1992, S. 63). Auch diese Formulierung ist aber hochgradig interpretationsoffen: Wer bestimmt nach welchen Kriterien, was 'wesentliche' Funktionen sind? Und wer bestimmt nach welchen Kriterien, ob das Funktionieren eines Organismus 'befriedigend' ist?

Krankheitskonzepte in der Medizintheorie

Aber, so könnte man einwenden, gibt es nicht eindeutige, objektive medizinische Kriterien für die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit? Immerhin hat dies der vielleicht bekannteste Theoretiker des Krankheitsbegriffs, Christopher Boorse, zu zeigen versucht. Er definiert Krankheit ("disease") naturalistisch als Abweichung eines biologischen Organismus vom Zustand der 'normalen Funktionsfähigkeit', der sich bei der betreffenden 'Referenzklasse' dieses Organismus feststellen lässt. Die 'Normalität' der Funktionsfähigkeit wird dabei zunächst im statistischen Sinne interpretiert. Organismen werden jedoch - anders als beim rein statistischen Krankheiskonzept - als funktional integrierte Einheiten verstanden, die intern zielgerichtet organisiert sind. Als Organismusziele werden dabei individuelles Überleben und Reproduktion angesetzt. Dem entsprechend erscheint nicht jede beliebige Abweichung von einem statistischen Mittelwert als krankhaft, sondern nur diejenige, welche die Funktionsfähigkeit des Organismus unter das speziestypische (und altersspezifische) Niveau absinken lässt.

Tatsächlich gelingt Boorse auf dieser Grundlage eine einigermaßen stimmige Rekonstruktion der medizinischen Verwendung des Krankheitsbegriffs. Allerdings stellt auch für Boorse die Einordnung statistisch 'normaler' Funktionseinschränkungen (Bewegungsmangelkrankheiten etc.) ein Problem dar. Weil Boorse die jeweilige Referenzklasse altersspezifisch definiert, kann er 'normale' Alterserscheinungen prinzipiell nicht als Krankheit werten, auch wenn sie mit schwerwiegenden Funktionsbeeinträchtigungen verbunden sind (Hörschwäche, Osteoporose etc.). Vor allem aber ist Boorses Behauptung unberechtigt, dass sich Organismusfunktionen 'objektiv' bzw. 'wertfrei' feststellen ließen. Individuelles Überleben und Reproduktion als Organismusziele zu bestimmen, stellt eine wertende Deutung dar. Eine weitere Überlegung ist ebenso bedeutsam: Würden wir wirklich über einen strikt wertneutralen Krankheitsbegriff verfügen, wie Boorse und die übrigen Naturalisten annehmen, so würde dieser Begriff für die Begründung von Leistungsansprüchen wenig austragen. Aus etwas Wertneutralem können nämlich keine Wertungen oder Normen abgeleitet werden. Gesucht ist aber gerade ein Krankheitsbegriff, der eine normative Aussage nachvollziehbar macht; die Aussage nämlich, dass genau diejenigen medizinischen Leistungen solidarisch finanziert werden sollen, die der Erkennung, Eingrenzung, Linderung oder Heilung von Krankheiten dienen. Thomas Schramme, selbst ein Anhänger des Boorseschen Krankheitskonzepts, hält daher "die Überzeugung, die Medizin dürfe nur Krankheiten und keine anderen unangenehmen Zustände behandeln, [für] nicht gerechtfertigt. Was die Ziele der Medizin sind und ob sie sich auf die Behandlung von Krankheiten beschränken sollte, sind wichtige normative Fragen, die freilich nichts mit dem Krankheitsbegriff als solchem zu tun haben" (Schramme 2000, S. 111). Auch bei etwas vorsichtigerer Deutung wird man zumindest konzedieren müssen, dass ein naturalistischer Krankheitsbegriff allein den Sinn des in SGB V formulierten Junktims zwischen Krankheitswert und Behandlungsanspruch nicht plausibel machen kann. Es bedürfte zumindest zusätzlicher normativer Argumente. Kurz gesagt: Ein strictu sensu wertfreier Krankheitsbegriff ist erstens nicht zu gewinnen. Zweitens böte er keine Lösung unseres Problems.

Sind nichtnaturalistische bzw. 'normativistische' Krankheitskonzepte überzeugender? Diese Konzepte stimmen darin überein, dass Krankheit nicht definiert werden kann, ohne auf wertende oder vorschreibende Urteile zu rekurrieren. Von Naturalisten wird oft unterstellt, dass nichtnaturalistische Krankheitsdeutungen stets 'relativistisch' sein müssten. Aber diese Auffassung ist unberechtigt. Nichtnaturalistische Krankheitskonzepte unterscheiden sich u.a. in zwei Hinsichten: Erstens bezüglich der Frage, wessen Wertungen bzw. Normierungen es sind, auf die im Rahmen des Krankheitskonzepts jeweils rekurriert wird; zweitens bezüglich der Frage, welcher Art diese Wertungen bzw. Normierungen sind. Die erste Frage wird von manchen Nichtnaturalisten mit dem Hinweis auf die jeweils Betroffenen (Patientinnen bzw. Patienten) beantwortet, von anderen mit dem Hinweis auf die Gesellschaft oder bestimmte politische Akteure, und wieder andere sehen die entscheidenden Wertungen aus Aushandlungsprozessen in der Arzt-Patient-Kommunikation hervorgehen. Nicht weniger bedeutsam sind Unterschiede bezüglich der Frage nach der 'Natur' der Werte und/oder Normen, auf die Nichtnaturalisten rekurrieren. Diese werden teilweise als subjektive Präferenzen verstanden, teilweise als Werte im Sinne einer quasi-aristotelischen Theorie natürlicher Güter, teilweise als universell gültige Normen im Sinne einer deontologischen Ethik. Ein 'normativistischer' Krankheitsbegriff muss also keineswegs relativistisch, er kann auch universalistisch sein - insoweit nämlich, als die in ihn einfließenden Wertungen bzw. Normen universell begründbar sind.

Anspruchsgründe und Anspruchsgrenzen

Von hier aus zeichnen sich am ehesten die Konturen eines aus Sicht des Sozialrechts 'brauchbaren' Krankheitsbegriffs ab. Ein solcher Krankheitsbegriff kann weder strikt wertneutral noch vollständig relativistisch sein. Denn er soll ja erkennen lassen, warum genau diejenigen, die krank sind, ein Recht auf solidarfinanzierte Behandlung haben. Er muss daher in Beziehung zu den tragenden Grundwerten des Sozialrechts stehen. Und tatsächlich nehmen alle bekannten Krankheitsdefinitionen (auch die Boorsesche) auf einen oder mehrere Grundwert(e) Bezug: Leben, Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung, Leidensvermeidung. Von hier aus lässt sich erklären, inwiefern das Sozialrecht gesetzlich Versicherten ein Anspruchsrecht auf Krankheitsbehandlung, aber nicht auf beliebige andere medizinische Maßnahmen, zuerkennt - insofern der Zustand "Krankheit" grundlegende Rechtsgüter (Leben, Selbstbestimmung etc.) bedroht. Diese Erkenntnis ist zwar trivial, ermöglicht aber einen nüchternen Blick auf Abgrenzungsprobleme von der Art, wie sie sie in der Viagra-Kontroverse exemplarisch deutlich wurden. Dieser Blick offenbart zweierlei.

Erstens: Der Streit über die Grenzen der gesetzlich Versicherten zustehenden Gesundheitsleistungen betrifft letztlich die Konkretisierung von Anspruchsrechten von Bürgern eines sozialen Rechtsstaates auf positive Maßnahmen zum Schutz grundlegender Rechtsgüter. Es handelt sich insofern um ein allgemeines Problem, wie es sich generell im Sozialrecht, aber z.B. auch in Bezug auf die Grenzen eines Anspruchs auf positive Maßnahmen zum Schutz des Privateigentums stellt. Ebensowenig wie die Frage, wie weitreichend der Staat verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz des Privateigentums zu ergreifen, allein durch eine Definition des Eigentumsbegriffs beantwortet werden kann, kann die Frage, inwieweit die Ansprüche der Rechtsbürger auf gesundheitserhaltende Maßnahmen reichen, durch eine Definition des Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriffs entschieden werden. Eine solche Definition ist zwar unverzichtbar zur Beantwortung der Frage, was überhaupt ein Anspruchsgrund sein kann und was nicht (das Recht auf Schutz des Privateigentums schützt eben nur das Privateigentum und nicht irgend etwas anderes). Eine solche Definition allein kann aber unmöglich präjudizieren, wie weit konkrete Ansprüche genau - bis ins Detail - reichen sollen. In der Diskussion über die gesetzliche Krankenversicherung werden diese beiden Fragen regelmäßig konfundiert.

Zweitens: Der Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriff ist auf mehrere Grundwerte bzw. Rechtsgüter bezogen (Leben, Autonomie u.a.). Bei der Konkretisierung von Leistungsansprüchen kann sich daher - zusätzlich zum allgemeinen Eingrenzungsproblem - das aus der Grundrechtsdiskussion bekannte Problem der relativen Gewichtung verschiedener Rechtsgüter stellen ("Sind medizinische Maßnahmen zur Steigerung der Lebensqualität oder zur Lebenserhaltung vorrangig?" etc.) Auch dieses Problem kann legitimerweise nicht durch bloße Begriffsbestimmungen gelöst werden.

So wenig diese Überlegungen eine positive Auflösung des Streits um Viagra ähnlicher Streitfälle erwarten lassen, so zwingend scheint zumindest das negative Fazit: Eine fallweise pragmatische Umdefinition des Krankheitsbegriffs nach Maßgabe wirtschaftlicher Erwägungen - wie sie vom Bundesausschuss durch die versuchte Ausgrenzung der erektilen Dysfunktion unternommen wurde - kann keine Lösung sein. Nicht nur zerstört sie die Rechtssicherheit. Sie gefährdet zudem das Selbstverständnis der Medizin. So schwer es sein mag, plausible Kriterien für die Unterscheidung "Krank/Gesund" zu finden (wenn es denn überhaupt möglich ist) - von der Zahlungsfähigkeit des Sozialsystems kann diese Unterscheidung doch wohl nicht abhängen.

Literatur:

Korzilius, H. (1998). "Arzneimittel-Richtlinien: Wirtschaftlichkeit heißt das erste Gebot." Deutsches Ärzteblatt 95: A-1947.

Krimmel, L. (1998). "Potenzpille Viagra: Super-GAU für die GKV." Deutsches Ärzteblatt 95: A-1512.

Lanzerath, D. (2000). Krankheit und ärztliches Handeln: Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik. Freiburg i. Br.; München, Karl Alber.

Mazal, W. (1992). Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung: Eine Untersuchung zum Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung. Wien, Wilhelm Braumüller.

Schneider-Danwitz, A. and G. Glaeske (1999). "Viagra: Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen - ein 'kleiner Gesetzgeber'?" Medizinrecht 17: 164-172.

Schramme, T. (2000). Patienten und Personen: Zum Begriff der psychischen Krankheit. Frankfurt a. M., Fischer Taschenbuch.

Seewald, O. (1981). Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit. Köln, Heymann.

Sigusch, V. (2000). "Viagra: Forschungsstand." Zeitschrift für Sexualforschung 13: 311-334.




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