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Düwell, Marcus / Hübenthal Christoph / Werner, Micha H. (2002):

Ethik: Begriff - Geschichte - Theorie - Applikation.

Vorläufiges, nicht zitierfähiges Online-Manuskript.
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Die Druckfassung ist erschienen in:
Marcus Düwell / Christoph Hübenthal /
Micha H. Werner (2002, Hg.):
Handbuch Ethik.
Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler, S. 1-23.



Die folgenden Ausführungen sollen einen Einstieg in die gegenwärtige ethische Diskussion ermöglichen. Dabei geht es nicht um den Versuch, die Beiträge des Handbuchs noch einmal zusammenzufassen, sondern um einen einführenden Überblick. (1) Den Auftakt bilden einige terminologische Überlegungen mit dem Ziel, ein Vorverständnis von "Ethik" als wissenschaftlicher Disziplin zu gewinnen. (2) Es folgt der Versuch, einige wichtige Etappen der Geschichte der Ethik in groben Zügen nachzuzeichnen. (3) Sodann werden einige wichtige metaethische Grundunterscheidungen eingeführt, die auch gleichsam als theoretische Landkarte des Handbuchs dienen können. (4) Abschließend diskutieren wir die aktuelle gesellschaftliche Relevanz der Ethik und skizzieren die wichtigsten Themen der Angewandten Ethik.

1. Zum Begriff 'Ethik'

1.1 Allgemeiner Begriff

Als Bezeichnung für eine philosophische Disziplin wurde der Begriff 'Ethik' von Aristoteles eingeführt, der von einer ethikes theorias sprach und damit die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen (ethos) meinte. Dahinter stand die bereits von den Sophisten vertretene Auffassung, es sei für ein Vernunftwesen wie den Menschen unangemessen, wenn dessen Handeln ausschließlich von Üblichkeiten, Konventionen und Traditionen geleitet werde. Die hiergegen von Aristoteles formulierte Überzeugung lautet, menschliche Praxis sei grundsätzlich einer vernünftigen und theoretisch fundierten Reflexion zugänglich; es lasse sich auf begründete Weise etwas darüber sagen, wie man gut und richtig handeln soll und welche personalen Qualitäten dies voraussetzt. Die überkommenen Sitten und Gebräuche werden somit der Vernunft unterstellt, und wo sie deren Maßstäben nicht genügen, sind sie zu ändern oder abzuschaffen. Ethisches Denken bezieht sich auf den gesamten Bereich des individuellen und kollektiven Handelns einschließlich dessen Voraussetzungen; alles freiwillige und zielgerichtete Verhalten des Menschen hält Aristoteles einer vernünftig-wissenschaftlichen Bewertung für zugänglich. Dabei unterscheidet sich das Wissenschaftsverständnis der Ethk allerdings erheblich von dem der auf Naturerkenntnis bezogenen Wissenschaften. Während diese ihren Gegenstand tatsächlich erkennen können, vermag die Ethik nicht bis zum Handeln in konkreten Situationen vorzudringen, sondern nur die Umrisse und Grundprinzipien des rechten Handelns anzugeben. Ethik ist für Aristoteles eine philosophische Disziplin, die den gesamten Bereich menschlichen Handelns samt dessen personalen Bedingungen zum Gegenstand hat, diesen Gegenstand mit philosophischen Mitteln einer normativen Beurteilung unterzieht und zur praktischen Umsetzung des auf diese Weise positiv bewerteten Verhaltens anleitet.

In diesem Sinne kann man den Begriff 'Ethik' auch heute noch verstehen. Freilich haben sich seit dem Beginn ethischen Denkens einige mehr oder weniger gravierende Veränderungen und Akzentverschiebungen ergeben. Zu Aristoteles' Zeiten stand die eudaimonistische Frage im Mittelpunkt der ethischen Reflexion: Wie ist ein gutes, gelingendes und glückliches Leben für Einzelne, Gruppen und Gemeinschaften möglich? Primär ging es also um die Erkenntnis und praktische Realisierung des evaluativ Guten, das vom moralisch Richtigen noch nicht deutlich unterschieden wurde. Diese Wahrnehmung wandelt sich im Verlauf des ethischen Denkens, wobei die - in aller Radikalität mit der Wende zur Neuzeit einsetzende - Transformation sowohl eine theoriegeschichtliche wie eine kultur- und sozialgeschichtliche Seite hat: Die zunehmende Ausdifferenzierung zwischen evaluativen Fragen des guten Lebens und normativen Fragen des moralisch Richtigen steht in enger Wechselbeziehung mit der Pluralisierung von Konzepten des guten Lebens und der Säkularisierung staatlicher Autorität. Sofern an die Stelle einer einheitlichen, weithin geteilten Vorstellung des guten Lebens eine Pluralität verschiedener, häufig einander widersprechender Konzepte des Guten tritt, muss sich die Ethik auch der Frage widmen, wie die hieraus resultierenden Wert- und Interessenkonflikte friedlich und gerecht beigelegt werden können. Die Frage der gerechten Beilegung von Wert- und Interessenkonflikten ist Gegenstand einer eigenen Reflexion auf das moralisch Richtige. Seit der Neuzeit ist diese Frage immer mehr in den Vordergrund ethischer Reflexionsbemühungen getreten und erscheint auch im gegenwärtigen Diskussionskontext als dominierend. In den letzten Jahren ist allerdings wieder ein verstärktes Interesse an Fragen des evaluativ Guten zu erkennen.

Für die Klärung konkreter ethischer Probleme ist oft eine Vielzahl empirischer und prognostischer Fragen zu beantworten. Im Zentrum der ethischen Reflexion steht jedoch nicht die deskriptive und explikative Beschäftigung mit moralischen Fragen, sondern die Generierung, Überprüfung und Begründung von normativen Aussagen. Ethik - verstanden als normative Ethik - fragt also nicht in erster Linie nach dem, was ist, sondern nach dem, was getan werden soll. Solche Sollens-Aussagen besitzen im Hinblick auf eudaimonistische Fragen allerdings einen anderen Status als im Bereich der Diskussion über normative Fragen. Während evaluativen Aussagen, die stets von bestimmten Vorstellungen vom guten und gelingenden Leben abhängig sind, nur der Status von Ratschlägen oder Empfehlungen zukommt, erheben Normen bzw. Prinzipien des moralisch Richtigen einen universalen und kategorischen Geltungsanspruch, der ihnen - sobald er vernünftig begründet werden kann - einen Vorrang vor allen anderen praktischen Gesichtspunkten zukommen lässt.

Einige Autorinnen und Autoren neigen allerdings dazu, die Begriffe 'Ethik' bzw. 'ethisch' nur noch im Zusammenhang mit eudaimonistischen Fragestellungen zu gebrauchen und den Titel 'Moralphilosophie' der Reflexion auf Probleme des moralisch Richtigen (Gerechten) vorzubehalten. Aus unterschiedlichen Gründen scheint es uns jedoch sinnvoller, Ethik weiterhin als Disziplin zu verstehen, die auf den gesamten Bereich menschlicher Praxis reflektiert und ihn in evaluativen sowie normativen Hinsichten zu beurteilen sucht. Moral bezeichnet daher entweder die Gesamtheit der Überzeugungen vom normativ Richtigen und vom evaluativ Guten sowie der diesen Überzeugungen korrespondierenden Handlungen oder aber allein den Bereich des moralisch Normativen. Unter Ethik dagegen verstehen wir hier diejenige Disziplin, welche diese faktischen Überzeugungen und Handlungen einer philosophischen Reflexion unterzieht.

1.2 Unterscheidungen: Deskriptive Ethik, Normative Ethik und Metaethik

In einem allgemeinen Verständnis lässt sich Ethik also als philosophische Reflexion auf Moral verstehen. Diese Reflexion kann aber auf verschiedene Weise vollzogen werden.

(1) Wenn sie nur auf die möglichst präzise empirische Erfassung und Beschreibung der vorfindlichen Moral - oder der vorfindlichen Moralen - zielt, spricht man von deskriptiver Ethik. Die deskriptive Ethik ist mit anderen Disziplinen verschwistert, die nicht zur Ethik im engeren Sinne gezählt werden, vor allem mit der Moralpsychologie, der Kulturgeschichte der Moral und der Moralsoziologie sowie mit der Ethikgeschichte.

(2) Wenn die methodische Reflexion auf Moral nicht in empirisch-deskriptiver oder historisch 'erklärender' Weise, sondern mit dem Ziel der Begründung und Kritik von Moral bzw. dem Ziel einer normativen Rekonstruktion faktisch vorfindlicher Moral(en) betrieben wird, spricht man - in einem allgemeinen Sinn - von normativer Ethik. Wo ohne weitere Erläuterungen von 'Ethik' die Rede ist, ist in aller Regel dieser allgemeine Begriff gemeint. Auch dessen Verwendungsweise lässt sich noch einmal ausdifferenzieren. Neben dem skizzierten weiten Begriff von normativer Ethik als methodische Begründung und Kritik von Moral findet sich auch eine enge Begriffsverwendung, die sich lediglich auf eine Teildisziplin der normativen Ethik im weiten Sinne bezieht. Im engen Sinne beschäftigt sich die normative Ethik nur mit Fragen des normativ Richtigen (Gesollten), nicht hingegen mit Fragen des evaluativ Guten. Normative Ethik wird hier also ausschließlich als Sollensethik verstanden, d.h. als jene Subdisziplin, die der eudaimonistisch orientierten Strebensethik gegenüber steht. Dementsprechend umfasst der weite Begriff normativer Ethik Sollens- und Strebensethik gleichermaßen.

Wo normative Ethik auf einer grundsätzlichen Ebene betrieben wird, d.h. wo beispielsweise die Prinzipien moralischen Urteilens oder die Kriterien für die ethische Moralkritik begründet werden, wo die Semantik zentraler ethischer Begriffe geklärt oder die formalen und inhaltlichen Bedingungen von evaluativen Aussagen reflektiert werden, da ist im Allgemeinen von Fundamentalethik die Rede. Viele Autorinnen und Autoren subsumieren die Fundamentalethik allerdings unter die Metaethik. Aus gleich noch näher zu erläuternden methodischen Gründen scheint uns diese Zuordnung jedoch nicht plausibel.

(3) Schließlich kann die Reflexion auf Moral - und auf Ethik - auch mit dem Ziel betrieben werden, die allgemeinen logischen, semantischen und pragmatischen Strukturen moralischen - und ethischen - Sprechens und Argumentierens besser zu verstehen. In diesem Fall spricht man von Metaethik. Die Metaethik ist eine verhältnismäßig junge Disziplin, die sich in erster Linie der Untersuchung praktischer Argumentationen mit den Mitteln der modernen sprachanalytischen Philosphie verdankt. Da das Nachdenken über die allgemeinen 'Bedingungen der Möglichkeit' ethischen Argumentierens (Begründens und Kritisierens) seit jeher Teil der normativen Ethik war, ist es nicht immer leicht, normative Ethik und Metaethik von einander abzugrenzen.

Der Umstand, dass mit Metaethik die sprachanalytische Reflexion auf moralisches und ethisches Argumentieren gemeint ist - erst Letzteres macht ja den Namen 'Metaethik' verständlich - weist auf eine wichtige Tatsache: Wenn Ethik als Reflexion auf Moral verstanden wird, so darf dies nicht den Eindruck erwecken, dass Moral im gleichen Sinne ein 'Objekt' wissenschaftlicher Untersuchung werden könnte wie die Objekte der empirischen (Natur-)Wissenschaften. Denn auch die faktischen Überzeugungen vom normativ Richtigen und evaluativ Guten sind ja qua Überzeugungen immer schon auf mehr oder weniger rationale Annahmen, Argumente und (Alltags-)Theorien gestützt. Moralische Alltagsdiskurse sind insofern nicht strukturell, sondern nur graduell verschieden von denjenigen ethischen Diskursen, die in moralphilosophischen Seminaren und Fachzeitschriften geführt werden. Es gibt also fließende Grenzen zwischen moralischer Alltagskommunikation und ethischem Argumentieren, wobei Letzteres sich nur durch strengere Argumentationsstandards von Ersterem unterscheidet sowie durch den Versuch, die im moralischen Alltagsdiskurs stillschweigend vorausgesetzten lebensweltlichen Alltagsgewissheiten zu rekonstruieren und explizit zu machen. In dieser Hinsicht kommt die Ethik freilich mit anderen Geistes- und Kulturwissenschaften überein.

Ethische Theorien und moralische Alltagspraxis sind jedoch nicht nur strukturell, sondern auch historisch miteinander verwoben. Obschon es uns selten bewusst werden mag, unsere faktischen moralischen Überzeugungen, Gefühle und Reaktionen erweisen sich sehr oft als geformt - oder jedenfalls überformt - durch eine Jahrhunderte lange Geschichte ethischen Argumentierens.

2. Zur Geschichte der Ethik

2.1 Antike

Die Geschichte der wissenschaftlichen Ethik beginnt im 4. vorchristlichen Jahrhundert. Zu dieser Zeit legt Aristoteles einen gegliederten philosophischen Fächerkanon vor (vgl. Metaphysik IV) und führt in diesem Zusammenhang auch die Ethik als eigenständige Disziplin innerhalb der praktischen Philosophie ein (vgl. Eudemische Ethik, Nikomachische Ethik). Schon der Umstand, dass diese Einteilung bis zur heutigen Aufteilung des Fächerkanons Folgen zeitigt, macht deutlich, warum die aristotelische Systematik eine wissenschaftliche Leistung von epochalem Rang darstellt. Allerdings muss man sehen, dass sich die disziplinäre Verfestigung der praktischen Philosophie und der Ethik bereits seit längerem vorbereitet hatte. Schon etwa einhundert Jahre früher hatte die sophistische Bewegung das Hauptaugenmerk der wissenschaftlichen Bemühungen von naturphilosophischen Gegenständen auf solche Fragen hin gelenkt, die mit dem Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft zu tun hatten. Auch wenn Aristoteles diese Entwicklung ausdrücklich auf Sokrates' persönliche Intervention zurückführt, dürfte die grundlegende Interessenverlagerung doch eher mit einer gewandelten politischen Situation zu erklären sein. So darf man annehmen, dass von den Bürgern der griechischen Stadtstaaten andere Kompetenzen gefordert waren als etwa noch zur Zeit der athenischen Adelsherrschaft. Wofür die Philosophie jetzt aufzukommen hatte, waren nicht in erster Linie Spekulationen über den Urgrund alles Seins, sondern ein Wissen darüber, wie man das Leben der Gemeinschaft auf bestmögliche Weise zu gestalten hat und welche Fähigkeiten dazu bei den Bürgern vorliegen bzw. entfaltet werden müssen. Vor allem aber hatte das zunehmende Wissen von fremden Kulturen mit ihren abweichenden Rechts- und Wertsystemen die hergebrachten Normen und Werte unter Legitimationsdruck gesetzt. Durch ihre Weigerung, gegebene Normen und Werte schon allein deshalb anzuerkennen, weil ihre Geltung konventionell oder traditionell akzeptiert wurde, schufen die Sophisten allererst Raum für die normativ-ethische Frage nach der Rechtfertigbarkeit und den Quellen der Legitimität gesellschaftlicher 'Setzungen'.

Will man Platon glauben, so beantworteten die Sophisten diese Fragen auf eine recht pragmatische und insofern auch angreifbare Weise. Denn ihr Streben nach Effektivität stand von Beginn an in Gefahr, das zentrale Moment des ethischen Nachdenkens zu verfehlen und Reflexionen über die menschliche Praxis auf das Bereitstellen von rhetorischen Fähigkeiten und sozialen Techniken zu reduzieren. Demgegenüber ringen Platon - und der platonische Sokrates - von Anfang an mit der Frage nach den einschlägigen Kriterien, an denen sich das individuelle wie kollektive Handeln gleichermaßen auszurichten hat. Zu diesem Zweck überführt Platon in seinen Frühdialogen (z.B. Laches, Charmides, Hippias Minor) die moralische Alltagssprache der semantischen Uneindeutigkeit und schärft auf diese Weise den Blick für das Desiderat eines verbindlichen Maßstabs aller Praxis. Das kognitivistische Pathos des platonischen Sokrates, der sein ganzes Leben aufs Spiel der Vernunft setzen sollte, kommt in seiner Selbstbeschreibung zum Ausdruck, er wolle nichts anderem gehorchen als dem #Logos# (wir würden vielleicht sagen: dem Argument), der sich bei der Untersuchung als der beste zeigt (vgl. Kriton 46b). Platons spätere Antwort auf die Frage nach einem Maßstab aller Praxis entfernt sich freilich von der sokratischen Vorstellung einer gleichsam auf dem Marktplatz, im öffentlichen Streit der Argumente zu entwickelnden und hier gleichermaßen gegen den Traditionalismus wie gegen den sophistischen Relativismus zu verteidigenden praktischen Vernunft. Vielmehr lässt Platons Antwort sich als ambitionierter Versuch begreifen, die bereits auseinander strebenden Zweige von theoretischer und praktischer Philosophie in einem Gesamtsystem zu integrieren. Seiner Auffassung nach gründet richtiges Handeln auf der Einsicht in die wahre Struktur der Wirklichkeit. Nur wer weiß, wie sich die Dinge ihrem Wesen nach verhalten, ist auch in der Lage, menschliche Angelegenheiten sachgemäß zu organisieren. Das oberste Prinzip seines philosophischen Systems erfüllt somit zugleich eine epistemische und eine praktische Orientierungsfunktion. Wenn aber, wie Platon glaubt, richtige Praxis auf wahrem Wissen beruht und genau diese Behauptung einer - den Sophisten nun zu Recht oder zu Unrecht zugeschriebenen - ethischen Skepsis gegenübergestellt wird, dann deutet sich hier bereits ein paradigmatischer Gegensatz an, der die gesamte europäische Ethikgeschichte durchziehen wird. Kann es, so lautet die entscheidende Frage, ein begründetes Wissen vom guten und richtigen Handeln geben oder nicht?

Mit seiner Etablierung der Ethik als unabhängiger philosophischer Disziplin bezieht Aristoteles in dieser Frage eindeutig Stellung. Denn nur wenn es ein solches Wissen tatsächlich gibt, ist auch eine sich darauf beziehende Wissenschaft möglich. Gegenüber Platon ist hierzu allerdings noch ein weiterer Schritt nötig. Es geht nicht nur darum zu zeigen, dass in praktischen Angelegenheiten begründete Aussagen möglich sind, ebenso ist deutlich zu machen, warum es sich dabei um ein von theoretischen Einsichten prinzipiell zu unterscheidendes Wissen handelt. Andernfalls ginge die Ethik in einem philosophischen Gesamtsystem auf und würde gerade keinen selbstständigen Aussagenzusammenhang bilden. Platon vertritt gegenüber den Sophisten einen ethischen Kognitivismus, der sich jedoch noch nicht substanziell von theoretischen Wissengehalten unterscheidet. Bei Aristoteles findet sich die weiter gehende Annahme einer Eigenständigkeit der praktischen Rationalität. Es ist diese doppelte Grenzziehung, der sich die Ethik seither als autonome philosophische Disziplin verdankt und die sie im Grunde bis heute in unterschiedlichen historischen Kontexten und vor dem Hintergrund mannigfacher Herausforderungen stets von Neuem zu ratifizieren hat.

Dass die Früchte der klassischen Definitionsbemühungen nicht überall gleichermaßen geschätzt wurden, zeigt schon die Entwicklung der nachsokratischen Strömungen. Während Sokrates ebenfalls einen ethischen Kognitivismus vertreten zu haben scheint, hielt man sich in der kynischen Schule vor allem an seine Hedonismuskritik und verteidigte ein streng asketisches und zugleich provokant zivilisationskritisches Naturideal. Im Hintergrund stand hier die Überzeugung, dass Konventionen den Blick auf das Gute nur verstellen. Auf der anderen Seite folgten die Kyrenaiker Sokrates bei seiner Identifikation des Guten mit dem menschlichen Glück. Allerdings gelangte ihr Verständnis vom erfüllten Leben kaum über die rudimentäre Gestalt eines kurzfristigen situativen Hedonismus hinaus. Beide Richtungen zeigten sich damit außerstande, die Tradition einer argumentativ verfahrenden Ethik fortzuführen und verharrten auf dem Stand zum Teil recht bizarr anmutender Lebenslehren.

Anders verhält es sich mit den bekannten ethischen Strömungen des Hellenismus und der Kaiserzeit: dem stoischen sowie dem epikureischen Denken. Gewiss finden sich dort auch immer wieder popularisierende Tendenzen, aber in ihren anspruchsvollen Varianten lassen sich beide Richtungen durch das Festhalten an der kognitivistischen Grundoption charakterisieren, wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung. Während die Stoa eine naturteleologische Auffassung vertritt, richtige Praxis als prozesshafte Angleichung an eine allgemeine Weltvernunft versteht und damit in gewisser Weise das platonische Einheitsmodell rekapituliert - immerhin mit dem Ergebnis eines klar akzentuierten Universalismus und Kosmopolitismus -, setzen die epikureischen Denker auf eine rationale Aufklärung der menschlichen Bedürfnisstruktur. Bei ihnen wird deutlich zwischen theoretischem und praktischem Wissen unterschieden und ersteres sogar ausdrücklich in den Dienst des Letzteren gestellt. Der naturphilosophisch ermöglichte Einblick in den atomisch-chaotischen Aufbau von Welt, Leib und Seele, so meinen sie, könne uns endgültig von aller Todesangst befreien und gestatte dadurch erst den Genuss wahrer Lebensfreude. Der Anspruch, richtiges Handeln mit vernünftigen Begründungen versehen zu können, darf somit als charakteristisch für weite Teile sowohl des stoischen wie des epikureischen Denkens gelten.

2.2 Christentum und Mittelalter

Aus dem Christentum erhält die ethische Reflexion eine Reihe weiterer Impulse; zunächst freilich weniger in der Form wissenschaftlicher Anregungen als vielmehr durch die Radikalisierung und Erweiterung moralischer Gehalte, wie etwa in der jesuanischen Bergpredigt, in der Utopie der Urgemeinde bei Lukas, in der paulinischen Überwindung des legalistischen Denkens oder in der ethischen Konzentration auf das Liebesgebot bei Johannes. Aber schon im apologetischen Schrifttum des 2. Jahrhunderts wird die Verschwisterung des Christentums mit dem griechischen Erbe programmatisch, so dass von einer philosophisch reflektierten Durchdringung der neuen Moralgehalte eigentlich eine durchgreifende Revision der Ethik hätte erwartet werden können. Dass es für lange Zeit anders kommen sollte, ist Augustinus zuzuschreiben.

Im Zuge seiner Auseinandersetzungen mit dem Manichäismus bestreitet Augustinus rigoros die Existenz eines bösen Prinzips und bestimmt das Böse im Sinne des Neuplatonismus lediglich als Seinsmangel, als privatio boni. Menschliche Würde resultiert ihm zufolge aus einer gottgegebenen Willensfreiheit (liberum arbitrium), die allerdings schon in Adam dazu missbraucht wurde, das Streben nicht auf den Schöpfer selbst, sondern auf das am Sein nur unvollkommen partizipierende Geschöpf und damit letztlich auf das Nichts bzw. das Böse zu richten. Mit seiner skrupulösen Bestimmung dieser urzuständlichen Willensfreiheit hat Augustinus zweifellos anthropologisches Neuland betreten. Zwar machte auch die griechische Ethik, allen voran Aristoteles, den Vorgang des Wählens immer wieder zum Thema ihrer Überlegungen, aber die Unableitbarkeit des Willensaktes findet sich in dieser Radikalität erst bei Augustinus. Für eine Fortentwicklung der Ethik war damit allerdings wenig gewonnen. Denn nach Augustinus zeugte sich die Verkehrung des Strebens durch die Sünde Adams permanent fort. Zwar setzt die damit verbundene Konkupiszenz die Willensfreiheit als anthropologische Bestimmung nicht prinzipiell außer Kraft, aber faktisch wird diese nun gänzlich unwirksam. In seinem Streit mit den Pelagianern macht Augustinus unmissverständlich deutlich, dass von einer Freiheit des Willens zum Guten keine Rede mehr sein kann. Schon die Erkenntnis des einzigen, wahren Strebenszieles hängt ausschließlich von der - aus menschlicher Warte überdies sehr selektiv gewährten - göttlichen Gnade ab. Vernünftig begründete Aussagen über das richtige Handeln sind angesichts dieser Sündenverfallenheit also von vornherein ausgeschlossen; und bei aller sonstigen Klarheit und Tiefe seiner Gedankenführung vertritt Augustinus in diesem Punkt doch eine Form des Irrationalismus, der eine wissenschaftliche Ethik letztlich unmöglich macht.

Führt man sich vor Augen, welchen immensen Einfluss das augustinische Denken für fast achthundert Jahre auf die Philosophie- und Theologiegeschichte - zumindest im lateinischen Westen - ausüben sollte, so erklärt dies hinreichend, warum eine produktive Fortschreibung des ethischen Diskurses für lange Zeit unmöglich war. Von Ausnahmen abgesehen - Anselm von Canterbury oder Petrus Abaelardus wären etwa zu nennen - ändert sich dies erst im 12. bzw. 13. Jahrhundert mit der neu einsetzenden Aristotelesrezeption. Thomas von Aquin entwirft im zweiten Teil seiner Summa theologiae als erster wieder ein eigenständiges ethisches System und setzt sich damit deutlich von Augustinus ab. Für ihn ist die menschliche Vernunft nicht völlig durch den Sündenfall korrumpiert. Als theoretische Vernunft kann sie Wahres und als praktische auch Gutes erkennen. Zur Einsicht in die übernatürlichen Wahrheiten ist sie zwar auf die göttliche Offenbarung angewiesen, aber im Bereich der natürlichen Gegebenheiten steht ihr durchaus ein höchster praktischer Grundsatz zur Verfügung, an dem sich alles Handeln orientieren kann: 'Das Gute ist zu tun und das Böse ist zu lassen.' Für Thomas bleibt dieses Axiom allerdings nicht nur formal, vielmehr zeichnet sich das menschliche Streben durch eine Reihe von natürlichen Neigungen (inclinationes naturales) aus, die in gewisser Hinsicht als Indikatoren für das geforderte Gute gelten können. Beispiele sind etwa der Selbsterhaltungstrieb, der Fortpflanzungstrieb oder der Gemeinschaftstrieb. Mit Hilfe der Vernunft kann dieses Strebenspotenzial in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden, und die Gesamtheit der sich daraus ergebenden Normen bezeichnet Thomas als natürliches Gesetz (lex naturalis). Um die dauerhafte Wirksamkeit dieses Gesetzes zu gewährleisten, bedarf es einer Habitualisierung der entsprechenden Handlungsdispositionen. Diesen Gedanken versucht Thomas in einer an Aristoteles anschließenden Tugendlehre systematisch auszuarbeiten.

Bemerkenswert ist an diesem Ansatz, dass sowohl das praktische Axiom als auch das natürliche Gesetz und ebenso das Tugendsystem vernünftig einsehbar und damit auch Nichtgläubigen zugänglich sein sollen. Allerdings lässt Thomas keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Bereich, der für die natürliche Vernunft tatsächlich erreichbar ist, eben gerade nicht um letzte Wahrheiten handelt. Die eigentliche Bestimmung des Menschen liegt vielmehr in einer jenseitigen, selig machenden Schau Gottes (visio Dei beatifica), von der der Mensch nur durch Offenbarung wissen kann. Ähnliches gilt für die dieser Bestimmung entsprechenden Verhaltensweisen und Handlungsdispositionen - allen voran die 'theologalen Tugenden': Glaube, Liebe und Hoffnung. Nicht nur kann die Einsicht in ihre Heilsnotwendigkeit niemals Resultat eines bloß vernünftigen Nachdenkens sein, auch ihr Erwerb ist nicht ohne die frei geschenkte göttliche Gnade möglich. Obwohl damit die entscheidenden ethischen Gehalte von der natürlichen Vernunft gerade nicht selbständig erkannt werden können, unterstreicht Thomas doch mit allem Nachdruck, dass eine vernünftige Durchdringung der übernatürlichen Wahrheiten durchaus möglich ist, wenn diese nur erst einmal offenbart wurden. Unter dem Offenbarungsvorbehalt lässt sich die thomasische Ethik somit als vollständig kognitivistisch bezeichnen; und im Hinblick auf eine nur innerhalb ihrer natürlichen Grenzen agierenden praktischen Vernunft vertritt Thomas immerhin noch einen - wenn man so will - eingeschränkten Kognitivismus.

2.3 Nominalismus und Renaissance

Gegen Ende des Mittelalters vollzieht sich - zunächst ebenfalls auf theologischem Gebiet - ein folgenreicher Umschlag, durch den das neuzeitliche Denken in gewisser Weise erst möglich wurde. Gleichzeitig ändern sich auch die sozialen und politischen Umstände so grundlegend, dass sich die Ethik nun mit einer historisch völlig neuen Aufgabe konfrontiert sieht. Interessanterweise hat diese Transformation wieder mit dem augustinischen Erbe zu tun. Im Gegensatz zu den großen Synthesen der Hochscholastik, die die gesamte Schöpfung nur als rational durchkonstruierten Ordnungszusammenhang begreifen konnten, betonen die Vertreter des spätmittelalterlichen Nominalismus - etwa Johannes Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham - die absolute Allmacht Gottes (omnipotentia Dei absoluta), die gerade nicht auf ein menschlich nachvollziehbares Ordnungsdenken reduziert werden kann. Die von Augustinus erstmals ins Spiel gebrachte unableitbare Willensfreiheit wird nun zum zentralen Attribut Gottes erklärt, was zur Folge hat, dass der gesamte Schöpfungszusammenhang als kontingentes, ja geradezu willkürliches Arrangement erscheinen muss. Ähnliches gilt auch für alle praktischen Normierungen und eine sich darauf gründende Sozialordnung. Theoretisches und praktisches Wissen sind damit nicht mehr als Angleichung des menschlichen Intellekts an die prinzipiell einsehbare Logik der göttlichen Ideen zu verstehen, sondern sie werden jetzt sozusagen auf sich selbst gestellt.

Überraschenderweise führt dieser theologische Voluntarismus jedoch nicht zu einer Lähmung der menschlichen Erkenntnisbemühungen, sondern im Gegenteil zu jenem groß angelegten Emanzipationsprogramm, das für die europäische Neuzeit typisch werden sollte. Auf der einen Seite sind es die Naturwissenschaften, die mit der eigenständigen Konstruktion von theoretischen Kenntnisse betraut werden und sich dazu spätestens seit Galilei systematisch der bis dahin kaum entwickelten Methode des wissenschaftlichen Experiments bedienen. Andererseits sieht sich der Mensch nun auch in seinen praktischen Angelegenheiten auf sich selbst gestellt und - wie es der Renaissancephilosoph Pico Della Mirandola selbstbewusst formuliert - dazu aufgerufen, seinen Ort in der Welt nach "eigenem Willen und eigener Meinung" zu gestalten. Der vom Nominalismus ausgerufenen Freiheit Gottes korrespondiert somit eine bislang nicht gekannte Freiheit des Menschen, durch die das wissenschaftlich-technische Großprojekt der Moderne eigentlich erst möglich wird.

Eine beinahe zwangsläufige Nebenfolge dieser Transformationen ergibt sich allerdings daraus, dass die ehedem gemeinsam geteilte Vorstellung vom Guten zusehends erodiert und einem unaufhaltsamen Pluralisierungs- und Partikularisierungsprozess unterworfen wird. Wenn selbst die Theologen nicht mehr für eine unverrückbare Welt- und Sozialordnung geradestehen können, sondern stattdessen menschliche Erfindungsgabe und Schaffenskraft dafür aufzukommen haben, dann steht zu erwarten, dass die entsprechenden Zielbestimmungen auch nicht immer einheitlich ausfallen. Ebenso verwundert es nicht, dass die unterschiedlichen Auffassungen vom Guten sehr bald miteinander in Konflikt geraten. Als historischer Beleg für diese 'polemogene' Wirkung des Pluralismus können die Religionskriege der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelten, deren Ursache in gewisser Hinsicht tatsächlich in widerstreitenden Totalinterpretationen von Mensch und Welt zu suchen ist.

Wenig später, unter dem Einfluss dieser Erfahrungen, präsentiert Thomas Hobbes in seinem Leviathan die Konstruktion eines vorstaatlichen Naturzustandes. Mit den bekannten Metaphern, wonach der "Mensch des Menschen Wolf" sei und ein Zustandes des "Kriegs aller gegen alle" herrsche, wird auf drastische Weise zum Ausdruck gebracht, dass das nach Selbsterhaltung strebende Individuum nun als alleiniger Ursprung von Wertsetzungen zu gelten hat, die es gegenüber allen anderen gewaltsam durchzusetzen versucht. Damit wird die Pluralisierung und Partikularisierung des Guten samt dem daraus entstehenden Antagonismus hyperbolisch auf die Spitze getrieben. Gleichzeitig indizieren diese Bilder aber auch - und das ist entscheidend -, dass sich die neuzeitliche Ethik nun mit einer bis dato nicht gekannten Herausforderung konfrontiert sieht.

Ging es der antiken und mittelalterlichen Ethik - jedenfalls dort, wo man ihr die entsprechende Wissenschaftsfähigkeit zutraute - um begründete Aussagen über das menschliche Handeln, die sich von einem - wie auch immer verstandenen - gemeinsamen Guten herleiten, so tritt angesichts der neuzeitlichen Pluralisierungs- und Partikularisierungstendenzen die Frage in den Vordergrund, wie daraus entstehende Konflikte auf gerechte Weise geregelt oder zumindest auf ein lebbares Maß reduziert werden können. Der eudaimonistischen Frage nach dem Guten wird die moralische Gerechtigkeitsfrage als die dringlichere vorgeordnet. Neben der eudaimonistischen Frage nach dem partikularen Guten, die nach wie vor zum Gegenstandsbereich der Ethik zählt, sieht sich die neuzeitliche Ethik nun vor allem durch die Frage herausgefordert, ob und wie Normen gerechten Handelns begründet werden können, die eine Lösung von Interessenkonflikten ermöglichen und dementsprechend auch zur Legitimation politischer oder rechtlicher Verfahren und Regelungen taugen.

2.4 Empirismus und Rationalismus

Folgt man einer gängigen philosophiehistorischen Einteilung, so lassen sich mit dem Empirismus und dem Rationalismus zwei große Entwicklungslinien des neuzeitlichen Denkens unterscheiden, die in jeweils unterschiedlicher Weise auf diese ethische Herausforderung reagieren. Die Vertreter des Empirismus gehen davon aus, dass moralisches Wissen letztlich immer auf Erfahrungen gründet. Anthony Ashley, der Earl von Shaftesbury, und später Francis Hutcheson nehmen beispielsweise an, dass der Mensch über einen spezifisch 'moralischen Sinn' verfügt, mit dem er die sittliche Qualität von Handlungen gewissermaßen empirisch feststellen kann. Wenn wir manche Verhaltensweise deswegen billigen, weil wir bei ihrem Anblick ein gewisses Wohlgefallen verspüren, so kann dies als Indiz für ihre Richtigkeit gelten. Für Hutcheson handelt es sich dabei ausnahmslos um solche Verhaltensweisen, die nicht dem individuellen, sondern dem allgemeinen Wohl dienen. Deshalb findet sich auch schon bei ihm die später zur Charakterisierung des Utilitarismus herangezogene Formel vom "größten Glück der größten Zahl", das mit jeder Handlung anzustreben sei. Da es sich beim 'moralischen Sinn' um ein allgemeines und gleichförmiges Vermögen handeln soll, müssten im Prinzip alle Menschen zu denselben Bewertungen gelangen. Hutcheson ist sich jedoch darüber im Klaren, dass dies nicht der Fall ist. Die entsprechenden Dissense erklärt er mit subjektiven Interessen oder Vorurteilen, die das Funktionieren des moralischen Sinnes beeinträchtigen können. Zwar lassen sich solche Unstimmigkeiten nach Hutcheson auf vernünftigem Wege lösen, dennoch kommt der Vernunft keine eigentliche Begründungsfunktion zu, sondern sie dient lediglich als Entscheidungsinstanz bei konträren Bewertungen. Die Universalität moralischer Urteile wird in diesem ethischen Ansatz also durch den Rekurs auf einen anthropologisch invarianten moralischen Sinn gewährleistet, der die Richtigkeit von Handlungen nach Maßgabe ihrer Gemeinwohlorientierung feststellt. Die Vernunft dient lediglich zur Aufdeckung und Beseitigung subjektiver Verunreinigungen.

In der Moralphilosophie David Humes wird die Rolle der Vernunft noch weiter beschränkt. Ihm geht es vor allem um die Frage, was uns zum sittlichen Handeln motiviert. Dafür kann jedoch weder ein moralischer Sinn aufkommen noch die Vernunft, deren praktische Begründungsleistung für Hume notwendig in einem infiniten Regress enden muss. Seiner Ansicht nach sind es ausschließlich Gefühle, die die letzten Zwecke von menschlichen Handlungen setzen und die daher auch als eigentliche Motivation von sittlichen Handlungen anzusehen sind. Hume nimmt folglich eine Reihe von 'moralischen Gefühlen' an, deren Vorhandensein er ebenfalls bei jedem Menschen unterstellt. Beispiele sind etwa das Wohlwollen, das Gerechtigkeitsgefühl oder das Gefühl für den allgemeinen Nutzen. "Die Vernunft", so heißt es bei Hume dagegen unmissverständlich, "ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen als die, denselben zu dienen und zu gehorchen" (Ein Traktat über die menschliche Natur II, III 3). Auch hier wird also der Universalismus der Moral von einer nicht-vernünftigen anthropologischen Konstante abhängig gemacht.

Von Hume führt ein mehr oder weniger direkter Weg zum klassischen Utilitarismus. Auch für Jeremy Bentham und John Stuart Mill bilden Gefühle die grundlegende Handlungsmotivation, und zwar das Streben nach Lust sowie das Vermeiden von Unlust. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern stellen sie aber nicht die Existenz eines moralischen Sinnes oder moralischer Gefühle in den Vordergrund, sondern betonen gewissermaßen die Pflicht zur Universalisierung des Nutzenstrebens. Was also bei Shaftesbury, Hutcheson, Hume oder auch bei Adam Smith noch in einer anthropologischen Konstante grundgelegt war, wird jetzt als spezifisch moralische Forderung erkennbar: die Pflicht, den allgemeinen Nutzen zu fördern bzw. zu maximieren. Interessanterweise übernimmt die Vernunft aber auch im utilitaristischen System nicht die Funktion einer Begründungsinstanz, obwohl doch dieser systematische Ort nach dem Ausfall der anthropologischen Konstanten ‚Sinn' und ‚Gefühl' vakant geworden ist. Zwar spielen im klassischen Utilitarismus rationale Überlegungen durchaus eine zentrale Rolle, vor allem da, wo es um die genaue Ermittlung des moralisch Geforderten geht. Aber die zum Teil hochkomplexen Folgenkalküle können kaum darüber hinwegtäuschen, dass die normative Forderung einer Universalisierung des Nutzenstrebens als solche gar nicht eigens begründet wird.

Die zweite große Traditionslinie der neuzeitlichen Ethik ist, wie gesagt, der Rationalismus. Zumindest was die ethischen Theoriebildung anbelangt, lässt sie sich in gewisser Hinsicht bis zu Thomas von Aquin und über diesen bis auf das stoische Naturrechtsdenken zurückverfolgen. Während jedoch das thomasische Naturgesetz noch stark teleologische Züge aufweist, indem es inhaltlich von der Richtungsdynamik der natürlichen Neigungen abhängt, lassen die neuzeitlichen Theoretiker, wie etwa Johannes Althusius oder Hugo Grotius, das Naturrecht ausschließlich in der Vernunftnatur des Menschen gründen. Genau genommen sind es zwei unterschiedliche, teils aufeinander aufbauende, teils einander widerstreitende Entwicklungen, die für die Ablösung eines theologisch unterfütterten Naturrechts durch ein säkulares Vernunftrecht verantwortlich sind. Zum einen hatte der Nominalismus bzw. Konzeptualismus (Duns Scotus, Wilhelm von Ockham) die Grundlagen des teleologischen, klassisch-naturalistischen Naturrechtsdenkens erschüttert und damit Raum für die in seiner Gesetzgebungshoheit unbegrenzte Autorität Gottes geschaffen. Zum anderen machte sich auf beiden Seiten ein Säkularisierungsdruck geltend, so dass die bekannten Argumentationsmuster sowohl 'naturalistischer' wie sozusagen 'voluntaristischer' Prägung oft in einer radikal gewandelten, säkularisierten Form wiederkehrten. Das vermutlich beste Beispiel dafür ist die Säkularisierung der von den Nominalisten postulierten grenzenlosen Normsetzungsbefugnis Gottes zur ähnlich unbegrenzten Autorität des weltlichen Souveräns in Hobbes' Leviathan.

Etwa zur selben Zeit wie Althusius und Grotius formuliert René Descartes die Grundzüge des gesamten rationalistischen Projekts. Alles Wissen soll ihm zufolge einen kohärenten Zusammenhang bilden, indem es methodisch aus einem einzigen, unverrückbaren Fundament (fundamentum inconcussum) abgeleitet wird. Die vom Nominalismus einstmals erschütterte Welt- und Wissensordnung erlebt damit eine eigentümliche Renaissance. Sie kehrt nun als autonome Leistung des menschlichen Geistes und zugleich als dessen immanente Struktur zurück. Auf die Gottesidee muss nur noch Bezug genommen werden, um die strukturelle Entsprechung zwischen Geist (res cogitans) und materieller Außenwelt (res extensa) zu verbürgen. Sobald diese Übereinstimmung aber vorausgesetzt werden kann, lassen sich die Ergebnisse der methodisch entwickelten Wissenschaft im Sinne technischer Anwendungen unmittelbar auf die körperliche Welt übertragen, und genau diese Applikationsleistung stellt für Descartes die eigentliche Aufgabe der Ethik dar: Wissenschaftliches Wissen soll im menschlichen Individuum, in der Sozialwelt und in der Natur wirksam werden. Zumindest der rationalen Beherrschung der Affekte hat Descartes in diesem Zusammenhang einige Aufmerksamkeit gewidmet. Aufs Ganze gesehen musste sein ethisches Projekt allerdings unvollendet bleiben, weil es den Abschluss des gesamten Wissenschaftssystems zur Voraussetzung hat und damit seine eigenen Möglichkeitsbedingungen erst in ferner Zukunft realisiert findet. Dennoch repräsentiert Descartes' Ansatz eine Ethik vom Typ des kognitivistischen Universalismus, wobei die Aufgabe der praktischen Vernunft allerdings darauf beschränkt bleibt, als technische Anwendungsrationalität zu fungieren.

Bei Baruch de Spinoza lässt sich eine ähnliche Grundintention wie bei Descartes feststellen. Auch ihm geht es um die Harmonisierung von geistigen und physischen Prozessen, und sein Hauptaugenmerk gilt in diesem Zusammenhang ebenfalls den menschlichen Leidenschaften. Im Gegensatz zu Descartes ist ihm jedoch weniger an einer Eindämmung der Affekte nach dem Modell des technischen Eingriffs gelegen. Seine Forderungen richten sich vielmehr darauf, das Zustandekommen und die Wirkweise von Gemütsbewegungen vernünftig nachzuvollziehen. Seiner Ansicht nach lässt sich nur durch die rationale Aufklärung aller physischen und psychischen Zusammenhänge ein Zustand der Leidenschaftslosigkeit erreichen, der ihm dann auch als das eigentlich Erstrebenswerte gilt. Die gegenüber Descartes veränderte Sichtweise erklärt sich aus den gewandelten ontologischen Voraussetzungen. Für Spinoza stellen die Strukturen des Geistes und der körperlichen Welt keine getrennten Sphären dar, deren Entsprechung erst nachträglich durch einen Rekurs auf die Gottesidee abgesichert werden müsste. Vielmehr werden Geist und Körper nun als parallel aufgebaute Attribute der einen göttlichen Substanz begriffen, die ihrerseits zur einzigen Wirklichkeit überhaupt erklärt wird und damit der Welt gerade nicht als etwas Transzendentes gegenübersteht. Die eigentliche ethische Aufgabe besteht für ihn also darin, sowohl die Vollzüge des menschlichen Geistes wie auch alle physischen Vorkommnisse als Selbstvollzüge der göttlichen Substanz zu begreifen. Mit dieser Erkenntnis, durch die sich der Mensch aus seiner leiblichen Gebundenheit erhebt und gewissermaßen von einem ewigen Standpunkt aus (sub specie aeternitatis) betrachtet, ist nach Spinoza eine eigentümliche Freiheit verbunden, die zur umfassenden Gottes- und Menschenliebe befähigen soll. In seinen politischen Schriften, in denen diese Überlegungen konsequenterweise für eine Theorie der religiösen Toleranz fruchtbar gemacht werden, zeigt sich die soziale Reichweite des Ansatzes. Es ist die Universalität der Vernunft, die dem Menschen einen interesselosen Blick auf sich selbst ermöglicht und ihn damit sozusagen aus seinem Engagement für seine Partikularinteressen befreit.

Ein entscheidendes Problem des ontologischen Monismus bei Spinoza liegt jedoch in dessen Freiheitsverständnis. Recht besehen können nämlich weder Gott noch der Mensch als wirklich frei gedacht werden, wenn Letzterer sich als bloße Aggregation verschiedener Modi in einem totalen Notwendigkeitszusammenhang betrachten muss und Ersterer diese Totalität selber ist. Damit scheint die Ethik - noch mehr als bei Descartes - auf einen Selbstvollzug theoretischen Wissens reduziert zu werden, wodurch die Eigenständigkeit der praktischen Vernunft vollständig aus dem Blick zu geraten droht. Mit genau dieser Schwierigkeit ringen die Vertreter der 'zweiten Generation' des Naturrechtsdenkens, vor allem Samuel Pufendorf und Christian Thomasius. Etwa zur selben Zeit wie Spinoza betonen sie einmal mehr die menschliche Willensfreiheit und definieren damit einen gegenüber dem deterministisch konzipierten Naturzusammenhang selbständigen Praxisbereich. Ebenso sanktionieren sie die schon bei Althusius und Grotius zu beobachtende Entdivinisierung des Naturrechts, so dass moralisches Handeln für sie in der Tat nur noch ein Handeln nach vernünftig einsehbaren Grundsätzen meinen kann.

2.5 Kant

Die Philosophie Immanuel Kants ist von dem Versuch bestimmt, den das Denken seiner Zeit prägenden Gegensatz von Empirismus und Rationalismus zu überwinden. Dieser Versuch führte Kant im Rahmen der theoretischen Philosophie dazu, eine grundlegende Revolution der Denkungsart ins Werk zu setzen, die er selbst als 'kopernikanische Wende' im philosophischen Weltbild begriffen hat. Sie ist durch einen radikalen Wechsel der Blickrichtung gekennzeichnet. An die Stelle des Versuchs, sich gleichsam im direkten Zugriff der 'objektiven' Strukturen der Wirklichkeit zu versichern, tritt der Versuch, allererst die 'subjektiven' Konstitutionsbedingungen dieser Wirklichkeit aufzudecken, die Anschauungsformen und Verstandeskategorien nämlich, unter denen diese Wirklichkeituns allein zugänglich ist. Die von Kant vorgeschlagene Lösung des Gegensatzes zwischen Empirismus und Rationalismus gibt dem Rationalismus in Bezug auf die formalen und kategorialen Strukturen der für uns erkennbaren Wirklichkeit - die Kant Erscheinungswelt nennt - recht, dem Empirismus hingegen bezüglich der materiellen Gehalte.

Von dem Versuch einer Überwindung des Gegensatzes zwischen Empirismus und Rationalismus ist auch Kants Moralphilosophie geprägt. Auf der einen Seite pflichtet Kant den Vertretern des Empirismus darin bei, dass das menschliche Handeln in naturale und affektive Zusammenhänge eingebunden ist und somit unter empirischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann. Auf der anderen Seite insistiert er jedoch mit allem Nachdruck auf dem Gedanken der Willensfreiheit, die sich zwar theoretisch nicht beweisen, wohl aber als notwendige Implikation des sittlichen Sollensanspruchs bzw. als Postulat der praktischen Vernunft erweisen lässt. Somit existieren für Kant zwei mögliche Bestimmungsgründe des Willens, die jeweils unterschiedliche Gesetzesformen repräsentieren: das Naturgesetz und das Sittengesetz. Moralisch zu handeln bedeutet demnach, sich von allen naturgesetzlich-empirischen Bestimmungen frei zu machen und den Willen allein dem vernünftigen Sittengesetz zu unterstellen.

Die entscheidende Wende gegenüber der vorkantischen Tradition ethischen Denkens wird dadurch vollzogen, dass dieses Sittengesetz selbst - jedenfalls nach dem Selbstverständnis Kants - gar nichts anderes enthält und enthalten darf als eben das Postulat der sittlichen Freiheit selbst. Die Verknüpfung zwischen eudaimonistischer Strebensethik bzw. klassisch-teleologischer Tugendethik auf der einen Seite und normativer Sollensethik auf der anderen wird damit auf folgenreiche Weise gelöst. Kants konsequent deontologischer Auffassung zufolge ist jede normative Ethik von Grund auf falsch angelegt, die ihre Adressaten unmittelbar auf die Realisierung irgendwelcher - wie auch immer definierter - äußerer bzw. materialer Zielsetzungen oder Güter verpflichtet. Jede solche Ethik wäre nämlich ihrem Wesen nach heteronom: Freie (wenngleich endliche) Vernunftwesen für Wesen zu halten, die in letzter Hinsicht auf die Realisierung äußerer Ziele oder Güter verpflichtet sind, würde ihre Autonomie und somit auch ihre Würde verletzen. Eine Ethik hingegen, welche die Autonomie ihrer Adressaten achtet, darf Kant zufolge keinen anderen 'Inhalt' haben, darf ihren Adressaten nichts auferlegen, als eben die Pflicht zur Autonomie selbst. In der Ethik macht sich also dieselbe 'kopernikanische Wende' geltend, derselbe Wechsel der Blickrichtung vom 'Objekt' zum 'Subjekt', wie in der theoretischen Philosophie.

In Kants Verständnis ist ein Vernunftwesen dann autonom, wenn es nur denjenigen Maximen folgt, denen es selbst seine vernünftige Zustimmung geben könnte. Das von Kant vorgeschlagene Moralprinzip, der Kategorische Imperativ, besteht daher in der Forderung, stets nur nach solchen Prinzipien zu handeln, denen die Moraladressaten selbst ihre vernünftige Zustimmung geben könnten. Die hiermit geforderte Selbstaffirmation der Vernunftautonomie impliziert zugleich die Pflicht, alle Vernunftwesen gleichermaßen in ihrer Selbstzweckhaftigkeit anzuerkennen und sie in ihrer Würde als moralische Personen zu achten. Kant hat dies in der so genannten Zweckformel des kategorischen Imperativs folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: "Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AA IV, S. 429).

Kants Moralphilosophie hat die ethische, juristische und politische Diskussion bis in die Gegenwart so tiefgreifend geprägt wie zuvor wohl nur die des Aristoteles. Gleichwohl ist bis heute umstritten, inwieweit Kant die selbst gesteckten Ziele erreicht hat bzw. inwieweit diese überhaupt - evtl. durch mehr oder weniger grundlegende Modifikationen der kantischen Theorie - erreicht werden können. So ist erstens umstritten, ob es Kant gelungen ist (und inwieweit es gelingen kann), Freiheit als notwendiges Postulat der praktischen Vernunft zu erweisen. Zweitens ist strittig, inwieweit ein Prinzip wie der Kategorischen Imperativ, das in gewissem Sinne ein formales Prinzip ist, gleichwohl eine reale Handlungsorientierung in konkreten Entscheidungssituationen bieten kann. Drittens sind Kants unbefriedigende Versuche, dem Problem möglicher Normen- oder Maximenkollisionen bzw. moralischer Konfliktsituationen Rechnung zu tragen, wiederholt kritisiert worden. Nachhaltige Wirkung hat insbesondere die facettenreiche Kritik Georg W. F. Hegels entfaltet. Einflussreich waren im deutschen Sprachraum auch Max Schelers Kritik am angeblichen Formalismus der kantischen Ethik sowie der von Max Weber formulierte Gesinnungsethik-Vorwurf, der primär den dritten der oben unterschiedenen Aspekte betrifft.

2.6 Entwicklung bis zur Gegenwart

Die deontologische Moralphilosophie Kants, der teleleologische Konsequentialismus in Gestalt des Utilitarismus sowie der Kontraktualismus im Anschluss an Hobbes dürfen als diejenigen Grundtypen ethischen Theoriebildung gelten, die noch das gegenwärtige Erscheinungsbild der Disziplin maßgeblich prägen. Der Grund dafür dürfte vor allem in der Entschlossenheit liegen, mit der sie den neuzeitlichen Herausforderungen zu begegnen versuchen. Die spezifisch moderne Aufgabenstellung besteht ja in erster Linie darin, angesichts weitgehender Spielräume der Verfolgung von Partikularinteressen und zunehmender Pluralisierung der Vorstellungen vom Guten einen Weg zu finden, wie die daraus entstehenden Interessen- und Wertungskonflikte auf moralisch legitime Weise geregelt werden können. Dazu bedarf es eines universalistischen Ansatzes, der die Berechtigung moralischer Forderungen von einem Maßstab her beurteilt, der nicht von einer Konzeption des Guten abhängig ist. Und dieser Universalismus ist es, der - ungeachtet der zum Teil gravierenden Unterschiede - als das gemeinsame Kennzeichen der beiden genannten Ansätze gelten darf.

Die behauptete Dominanz des kantischen und utilitaristischen Ethikparadigmas sollte freilich nicht verdecken, dass im 19. und 20. Jahrhundert eine Vielzahl von konkurrierenden Positionen entwickelt werden, die in der gegenwärtigen Diskussion ebenfalls eine mehr oder weniger bedeutsame Rolle spielen. Zu nennen wären beispielsweise die verschiedenen Entwürfe des deutschen Idealismus, die in Auseinandersetzung mit Kant die Dualität von Natur und Freiheit zu überwinden suchten, Schopenhauers Mitleidsethik, die religiöse Existenzethik Kierkegaards, marxistische Ansätze, der amerikanische Pragmatismus, die materiale Wertethik, neo-aristotelische und neo-hegelianische Richtungen sowie feministische Ethiken oder neue Varianten zur Tugendethik. Ebenso lässt sich für diesen Zeitraum eine Radikalisierung der Ethikkritik feststellen. Maßgeblich ist einerseits Nietzsches - vielfach auf Denkmuster der antiken Sophisten rekurrierender - Angriff gegen eine Moral, die seiner Ansicht nach die Erschaffung und Verwirklichung von neuen Werten behindert und damit der ästhetisch-kreativen Selbstüberwindung des Menschen im Wege steht. Auf der anderen Seite bestreiten positivistische Strömungen und der - durch sprachanalytische Überlegungen gestützte - metaethische Nonkognitivismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wahrheitsfähigkeit von moralischen Aussagen und untergraben damit das Fundament aller wissenschaftlichen Ethik. Seit dem zweiten Weltkrieg und insbesondere seit den sechziger Jahren ist jedoch eine 'Rehabilitation der Praktischen Philosophie' zu verzeichnen. Politische Philosophie und Rechtsphilosophie, vor allem aber Moralphilosophie und -theologie sowie die verschiedenen Bereichsspezifischen bzw. Angewandten Ethiken (siehe Teil III dieses Handbuchs) haben seitdem ihre Position in der akademischen und zunehmend auch in der allgemeinen öffentlichen Debatte behaupten und ausbauen können.

3. Metaethische Unterscheidungen und allgemeine Kategorien normativer Ethik

Versucht man, im gegenwärtigen Diskurs der Moralphilosophie Orientierung zu finden, so liegt es nahe, sich an die Unterscheidungen der Metaethik zu halten. Als eine Art Wissenschaftstheorie der Ethik hat die Metaethik Kategorien entwickelt, die einen systematische Überblick über die verschiedenen normativ-ethischen Theorien erleichtern können. Zu diesem Zweck seien sie im Folgenden vorgestellt.

3.1 'Neutralität' von Metaethik und deskriptiver Ethik?

Vorangeschickt werden muss ein Wort zur Metaethik als solcher. Ihrem Selbstverständnis nach beschäftigt sich die Metaethik mit moralischen und normativ-ethischen Äußerungen, ohne normativ dazu Stellung zu nehmen, also ohne zu versuchen, diese Äußerungen zu kritisieren oder zu begründen. Sie ist insofern bemüht, gegenüber den verschiedenen Varianten normativer Ethik Neutralität zu wahren. Auch hier ist freilich umstritten, wie dieses Neutralitätspostulat verstanden werden muss. In einer vorsichtigen Lesart besagt die Neutralitätsforderung vor allem zweierlei: Erstens, dass die Aussagen der Metaethik nach Möglichkeit die Pluralität des normativ-ethischen Diskurses nicht ohne zwingenden Grund restringieren dürfen; zweitens, dass metaethische Theorien eigene Prämissen, die in Verdacht stehen, normativ-gehaltvoll zu sein, nach Möglichkeit offen legen müssen. In einer weniger vorsichtigen Lesart könnte man das Neutralitätspostulat so verstehen, dass metaethische Theorien unter völligem Verzicht auf jede affirmative oder kritische Bezugnahme auf normativ-ethische Annahmen entfaltet werden müssten. Diese Anforderung dürfte indes überzogen sein. Denn keine Beschäftigung mit Moral - und somit auch keine metatheoretische Beschäftigung mit Ethik als der auf Moral reflektierenden Disziplin - kommt ohne ein zumindest implizites Unterscheidungskriterium aus, das es ermöglicht anzugeben, welche Überzeugungen und welche Handlungsorientierungen jeweils moralischen Charakters sind und welche nicht. Nun stellt aber die Wahl eines jeden möglichen Kriteriums für die Verwendung des Begriffs 'Moral' bereits eine Vorentscheidung dar, die auch für die Möglichkeiten normativer Ethik von entscheidender Bedeutung sind. Denn zwischen den Vertreterinnen und Vertretern verschiedener moralischer Positionen bzw. verschiedener normativ-ethischer Konzeptionen ist nicht etwa nur umstritten, wie man unter verschiedenen moralischen Überzeugungen und Handlungsorientierungen die 'richtigen' von den 'falschen' unterscheidet. Vielmehr herrscht bereits Uneinigkeit darüber, ob mit demjenigen, worin die eine Seite definierende Charakteristika des Moralischen erblickt, der Begriff der Moral überhaupt richtig bestimmt wurde. Für die Metaethik ist allerdings der Versuch charakteristisch, beide Diskussionsebenen zu unterscheiden. Metaethik fragt danach, was moralische Überzeugungen von anderen Überzeugungen unterscheidet. Ihr Ziel liegt nicht in der Begründung von Kriterien für richtiges moralisches Handeln, was allein Aufgabe der normativen Ethik ist.

In der Vielschichtigkeit solcher Dissense spiegelt sich die epistemische Ungewissheit von Kontroversen innerhalb der Ethik. Diese Ungewissheit ist nicht vergleichbar mit der Ungewissheit angesichts einer Rechenaufgabe, bei der immerhin bekannt ist, wie die gesuchte Lösung definiert ist, so dass die Aufgabe nur darin besteht, gültige und möglichst einfache Gleichungen zu finden, um die Lösung auf effiziente Weise zu erreichen oder strittige Lösungsvorschläge zu überprüfen. Innerhalb der Ethik besteht dagegen zumindest partiell schon Uneinigkeit darüber, wie die gesuchte 'Lösung' überhaupt zu definieren ist und wie die 'Aufgabe' der normativen Ethik formuliert werden muss.

Die erste, schwächere Lesart des Neutralitätspostulats scheint indessen unproblematisch. Auch auf der Grundlage dieser Lesart bleiben die Zielsetzungen der Metaethik hinreichend unterschieden von denen der normativen Ethik, so dass genug Raum für die Metaethik als einer sinnvollen und - relativ - eigenständigen Disziplin bleibt.

3.2 Kognitivismus und Nonkognitivismus

Eine der allgemeinsten metaethischen Unterscheidungen ist die zwischen kognitivistischen und nonkognitivistischen Theorien.

(1) Als Nonkognitivismus bezeichnet man die Auffassung, dass der oberflächliche Eindruck, wonach moralische Urteile gültig (richtig, wahr) oder ungültig (unrichtig, falsch) sein können, ein trügerischer Eindruck sei. In Wahrheit, so meinen die Vertreter und Vertreterinnen des Nonkognitivmus, verdienen moralische 'Urteile' diesen Namen gar nicht.

(a) Einer radikalen Ausprägung des Nonkognitivismus zufolge bringen moralische 'Urteile' lediglich subjektive Gefühle oder Einstellungen zum Ausdruck oder/und dienen der appellativen Beeinflussung der Handlungsweisen Anderer. Konsequenterweise bestreiten die Vertreter/innen dieser radikalen, Emotivismus genannten Spielart des Nonkognitivismus meist, dass normative Ethik als wissenschaftliche Disziplin möglich ist. Als bekannteste Vertreter des Emotivismus gelten Alfred J. Ayer und Charles L. Stevenson, die allerdings in ihren späteren Arbeiten von den Extrempositionen wieder ein Stück weit abgerückt sind.

(b) Eine in ihren Konsequenzen weniger radikale Variante des Nonkognitivismus bildet der sogenannte Präskripivismus. Bekannt und einflussreich ist er insbesondere in Gestalt des sogenannten universellen Präskriptivismus geworden, der von Richard M. Hare entwickelt wurde. Auch der Präskriptivismus geht davon aus, dass moralische Sätze nicht in letzter Hinsicht begründbar sind. Vielmehr ist auch Hare der Ansicht, dass solche Sätze im Grunde auf subjektiven Präferenzen beruhen. In anderer Weise als der Emotivismus betont der Präskriptivismus jedoch den Handlungsbezug moralischer Sätze, die als wesentlich präskriptive, also vorschreibende Sätze - analog Imperativsätzen - verstanden werden: Wenn eine Person P die Auffassung vertritt, dass die Handlung H in der Situation S richtig oder vorzugswürdig ist, so kann diese Auffassung nur dann als Ps aufrichtige Überzeugung gelten, wenn P auch bereit ist, in einer Situation des Typs S tatsächlich H zu tun. Dieser Handlungsbezug präskriptiver Sätze erweist sich - Hare zufolge - als höchst bedeutsam, wenn man zusätzlich auf die Bedingungen der Konsistenz moralischen Argumentierens reflektiert. In dieser Reflexion zeigt sich nämlich, dass (auch) praktische Behauptungen und Begründungen unter dem logisch-semantischen Postulat der Universalisierbarkeit stehen: Solange die Person P die Auffassung vertritt, "in der Situation S ist es richtig, die Handlungsweise H zu vollziehen", muss P auch zustimmen, dass es in der Situation S* ebenfalls richtig ist, gemäß H zu handeln, wenn S* in allen relevanten Eigenschaften S gleicht. Wenn P die Auffassung vertritt, "in der Situation S ist es für die Person P* richtig, H zu tun", so muss P auch der Behauptung zustimmen, dass es für die Person P** - oder eben auch für P selbst - richtig ist, in S H zu tun, sofern es nicht wiederum relevante Unterschiede zwischen P* und P** - oder P - gibt. Der Hinweis auf die Tatsache, dass P nun einmal selbst diejenige Person ist, die sich in der Situation von P* befindet - die also, der von ihr selbst vertretenen Auffassung zufolge, H tun soll - kann rationalerweise keine Rolle spielen. P kann, mit anderen Worten, denjenigen Präskriptionen, die sie selbst für gültig hält, nicht mit dem bloßen Hinweis abwehren, dass sie selbst die Betroffene ist. Demnach sind, dem universellen Präskriptivismus zufolge, alle Formen des ethischen Egoismus ebenso inkonsistent wie alle übrigen Formen des Partikularismus. Nach Hare kann der universelle Präskriptivismus somit eine Begründung der sogenannten Goldenen Regel leisten (die in der bekannteren 'negativen' Form lautet: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinem Andern zu!"). Obwohl der universelle Präskriptivismus eine nonkognitivistische Auffassung von Ethik vertritt, versucht er doch die normativen Konsequenzen seiner metaethischen Konzeption herauszuarbeiten.

(2) Während Hares universeller Präskriptivmus logisch-semantische Mindestbedingungen moralischen bzw. ethischen Argumentierens aufzuzeigen scheint, gehen die Begründungsansprüche der kognitivistischen Theorien darüber hinaus. Im Gegensatz zum Nonkognitivismus nehmen Vertreterinnen und Vertreter des Kognitivismus im Allgemeinen an, dass moralische Urteile - wie es das moralische Sprachspiel ja auch nahe zu legen scheint - als solche gültig (richtig, wahr) oder ungültig (unrichtig, falsch) sein können. Zwar behandelt auch der universelle Präskriptivismus moralische Urteile als gültig oder ungültig; aber diese Gültigkeit oder Ungültigkeit ist stets nur relativer Natur. Was im Rahmen des universellen Präskriptivismus allein beurteilt werden kann, ist die Konsistenz verschiedener präskriptiver Urteile untereinander. Vertreterinnen und Vertreter des Kognitivismus sind dagegen der Ansicht, dass zumindest ein Teil der moralischen Urteile als solche gültig oder ungültig sind; dass, anders gesagt, moralische Urteile ungültig sein können, auch ohne logisch-semantisch inkonsistent zu sein.

Nach einer häufig vertretenen Auffassung impliziert diese Grundannahme des Kognitivismus allerdings noch nicht die weiter gehende These, dass die Gültigkeit (Richtigkeit, Wahrheit) moralischer Urteile auch erkannt werden kann. Vielmehr, so wird gesagt, sei auch die Auffassung möglich, dass moralische Urteile zwar echte Urteile sind, die gültig oder ungültig sein können, dass wir aber prinzipiell keine Möglichkeit haben zu erkennen oder zu prüfen, ob sie gültig oder ungültig sind. Diese - absurd-tragisch anmutende - Auffassung ist es wohl, die man als Skeptizismus bezeichnen muss.

Wenn man von dem hier vorgeschlagenen weiten Begriff des Kognitivismus ausgeht, dann sind die nicht-skeptischen Versionen des Kognitivismus recht zahlreich. (Nur am Rande sei angemerkt, dass sich in den verschiedenen Beiträgen des vorliegenden Handbuchs unterschiedliche Definitionen dieses Begriffs finden; vgl. die Beiträge "Kognitivismus - Nonkognitivismus" sowie "Realismus, Naturalismus, Intuitionismus".) Obwohl die Unterscheidung zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus vergleichsweise einfach und eindeutig zu definieren scheint, bringt die Zuordnung ethischer Theorien oder Theoriefamilien zu einer diesen Kategorien mitunter Probleme mit sich. Bei manchen ethischen Konzeptionen sind nämlich Divergenzen festzustellen zwischen den Begründungsansprüchen, die diese Konzeptionen implizit erheben (indem sie zu bestimmten moralischen Streitfragen - auch über logische Konsistenzbeurteilungen hinaus - wertend und urteilend Stellung nehmen) und den Begründbarkeitsansprüchen, zu denen sie sich bekennen, wenn sie explizit ihr metaethisches Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Zudem sind graduelle Unterschiede in der Deutlichkeit möglich, in der die kognitivistische Grundauffassung sichtbar wird. Die Positionen derjenigen, die moralische Urteile für echte, begründungsfähige Urteile halten, unterscheiden sich nämlich unter anderem in der Stärke der jeweils für möglich gehaltenen - und als zureichend erachteten - Begründungsleistungen. Während beispielsweise im Utilitarismus meist die einfache Plausibilität der vorgeschlagenen Grundauffassung für rechtfertigungstheoretisch hinreichend erachtet und der größte Teil der Denkbemühungen auf die präzise, alle Details berücksichtigende Ausarbeitung dieser Grundposition verwandt wird, beschäftigen sich z.B. die Vertreterinnen und Vertreter der Diskursethik mit Vorliebe damit, ihre normativ-ethische Konzeption auch noch gegen den letzten denkmöglichen Einwand zu verteidigen, so dass sie erst verhältnismäßig spät mit der anwendungsbezogenen Spezifikation ihrer Theorie begonnen haben. Die Rede von 'schwachen' versus 'starken' (oder 'zu schwachen' versus 'überzogenen') Begründungsansprüchen ist freilich insofern etwas missverständlich, als auch diejenigen, die 'schwache' Begründungen für hinreichend erachten, wiederum eine 'starke' normative Thesen vertreten müssen - nämlich die These, dass es moralisch richtig ist, plausibel erscheinenden Theorien zu vertrauen und ihnen gemäß zu handeln.

3.3 Naturalismus, Intuitionismus, Konstruktivismus

In Anlehnung an die von George E. Moore geprägte Begrifflichkeit wird in metaethischen Übersichtsarbeiten bis heute oft die Unterscheidung von Naturalismus und Intuitionismus als entscheidende Binnendifferenzierung kognitivistischer Theorien vorgeschlagen. Diese Binnendifferenzierung betrifft erstens die epistemologische Frage, wie die Gültigkeit moralischer Urteile erkannt bzw. überprüft werden kann. Damit hängt zweitens die Frage zusammen, was es heißt zu behaupten, dass ein moralisches Urteil gültig ist.

(1) Dem Naturalismus zufolge müssen moralische Urteile als Urteile über das Vorliegen natürlicher Tatsachen oder als strukturell identisch mit solchen Urteilen verstanden werden. Es besteht nach dieser Auffassung keine wirkliche Diskontinuität zwischen den empirischen Wissenschaften und der normativen Ethik. Moore hat den Naturalismus nachdrücklich zurückgewiesen, wobei er sich vor allem auf das sogenannte Argument der offenen Frage stützt (vgl. hierzu wie auch zum Folgenden die Beiträge "Realismus, Naturalismus, Intuitionismus" sowie "Naturalistischer Fehlschluss").

(2) Die intuitionistische Gegenposition zum Naturalismus unterstellt im Grunde ebenfalls die Erkennbarkeit moralischer Tatsachen, begreift diese jedoch nicht als natürliche, empirisch überprüfbare Sachverhalte, sodern als unmittelbar ('intuitiv') einsehbare moralische Grundwahrheiten. (Es ist freilich nicht ganz einfach nachzuvollziehen, was genau sich Intuitionisten unter dem intuitiven Zugang zu diesen Grundwahrheiten vorstellen.) Beide Positionen stimmen also in der realistischen Auffassung überein, dass moralische Tatsachen als etwas Objektives zu betrachten sind, das in gewissem Sinne unabhängig von den sie erkennenden Moralsubjekten existiert, jedenfalls nicht erst durch diese konstituiert wird.

(3) In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich von konstruktivistischen Ansätzen. Den Konstruktivismus darf man möglicherweise als eine dritte moralepistemologische Grundposition neben Naturalismus und Intuitionismus begreifen. Konstruktivisten nehmen nicht an, dass moralische 'Tatsachen' oder 'Wahrheiten' unabhängig von den Urteilen existieren, die über sie getroffen werden. Diese Auffassung muss nicht zwangsläufig in einen ethischen Relativismus münden, dem zufolge moralische Auffassungen nur relative Gültigkeit - bezogen auf das jeweilige Moralsubjekt oder die jeweilige moralische Gemeinschaft - zukommt. Dem Konstruktivismus lässt sich auch eine universalistische Wendung geben, wenn gezeigt werden kann, dass die kognitiven, pragmatischen, sozialen oder sprachlichen Strukturen, innerhalb derer moralische Äusserungen überhaupt möglich sind, die Bedingungen gültiger moralischer Äusserungen in einer normativ relevanten Weise restringieren. Konzeptionen normativer Ethik, die in der Nachfolge Kants stehen, lassen sich vermutlich am ehesten in diesem konstruktivistischen Sinne begreifen. So ist beispielsweise nach diskursethischer Auffassung die Gültigkeit moralischer Grundnormen durch die allgemeinen pragmatisch-logischen Strukturen der Kommunikationspraxis verbürgt; sie haften insofern zwar an einer sozusagen 'gegenstandskonstituierenden' Praxis der Moralgemeinschaft, sind aber gleichwohl nicht beliebig, da die hier relevanten Strukturen dieser Praxis ihrerseits nicht beliebig sind.

3.4 Lineare, kohärentistische und reflexive Begründungsmuster

Während die Unterscheidung zwischen Naturalismus, Intuitionismus und Konstruktivismus die sozusagen moralontologische Frage nach der Natur des Moralischen überhaupt sowie die hiermit verknüpfte epistemologische Frage nach der Struktur moralischen Wissens und moralischer Erkenntnis betrifft, bezieht sich die Unterscheidung zwischen linear-deduktiven, kohärentistischen und reflexiven Begründungen auf die rechtfertigungstheoretische Frage nach der Struktur ethischer Begründungen (vgl. zum gesamten Abschnitt den Beitrag "Begründung"). Zweifellos existieren Abhängigkeiten zwischen den beiden Frageebenen. So sind naturalistische Konzeptionen normativer Ethik meist kohärentistisch, konstruktivistische rekurrieren vielfach auf reflexive Begründungsfiguren. Eine starre Kopplung oder gar logische Implikationsbeziehung ist hier allerdings nicht gegeben.

(1) Im Rahmen linearer Begründungen gilt eine eindeutige Begründungsrichtung: Wenn das moralische Urteil U auf das Urteil U* gestützt ist, dann kann U nicht gleichzeitig als Teil einer Begründung für U* herangezogen werden. Derartige lineare Begründungen sind natürlich mit dem Problem behaftet, dass bei allem, was jeweils zur Begründung herangezogen wird, immer wieder erneut nach einer Begründung gefragt werden kann. Etwas anderes würde gelten, wenn es tatsächlich eine Art wahrheitsverbürgender intuitiver Erkenntnis gäbe, hinter die nicht mehr zurückgefragt werden kann. Diese Auffassung wird mitunter auch als 'Fundamentalismus' bezeichnet. Angesichts der schwer vermeidbaren pejorativen Konnotationen scheint dieser Begriff allerdings wenig glücklich.

(2) Im Rahmen kohärentistischer Begründungen wird es als zulässig erachtet, das auf das moralische Urteil U* gestützte Urteil U zugleich als Beleg für die Gültigkeit von U* zu verstehen (vgl. den Beitrag "Kohärentismus"). Dies läuft freilich nur dann nicht auf einen Begründungszirkel hinaus, wenn man sich das Verhältnis von U und U* nicht als logische Beziehung zweier isolierter Urteile, sondern als Teil eines komplexen Netzwerks moralischer Urteile vorstellt, in das sich 'neue' Urteile mehr oder weniger gut einfügen, weil sie besser oder schlechter mit dem - seinerseits mehr oder weniger konsistenten - System der gegebenen Urteile zusammenpassen. Tatsächlich dürfte kaum jemand jemals eine Begründungskonzeption normativer Ethik ganz unabhängig von den Konsequenzen entwickelt und aufrecht erhalten haben, die sich aus ihr ergeben. Kohärentistische Begründungen sind in der Regel verbunden mit einem sozusagen rekonstruktionistischen Selbstverständnis der normativen Ethik, wonach diese auf eine - möglichst konsistente und einfache - Rekonstruktion des gegebenen Systems moralischer Überzeugungen und seiner kognitiven Grundstrukturen zielt. Die Kohärenzforderung wird in diesem Rahmen also nicht nur auf die normativ-ethische Theorie selbst, sondern auch auf die von ihr angebotene Rekonstruktion einer gegebenen moralischen Urteilspraxis bezogen. Dies entspricht der Einsicht, dass normative Ethik sich niemals schlechthin außerhalb unserer moralischen Alltagsdiskurse positionieren kann, sondern dass Ethikerinnen und Ethiker immer auch als Teilnehmer am allgemeinen Moraldiskurs verstanden werden müssen.

Aus dieser Positionsbestimmung ergibt sich freilich auch die Frage, ob kohärentistische Begründungen allein ausreichen können, die genuine Aufgabe der normativen Ethik zu erfüllen; die Aufgabe nämlich, hinreichende Gründe für die Verbindlichkeit moralischer Forderungen aufzuweisen. Kohärentistische Begründungen sehen sich dem Einwand ausgesetzt, dass die Verbindlichkeit ihrer Ergebnisse von Voraussetzungen abhängig ist, die nicht von allen geteilt werden müssen.

(3) Reflexive Begründungen stellen nach Auffassung ihrer Vertreter/innen neben linearen und kohärentistischen Begründungen eine dritte Möglichkeit der Rechtfertigung moralischer Urteile dar. Reflexive Begründungen leiten das zu Begründende nicht von einem vorausgesetzten Begründendem ab, sondern durch den Nachweis, dass das zu Begründende vom Begründungssubjekt nicht konsistent bestritten werden kann. Reflexiver Begründungsfiguren bedienen sich in jüngerer Zeit beispielsweise Alan Gewirth und die Diskursethik. So lässt sich nach diskursethischer Auffassung nicht sinnvoll bestreiten, dass wir unbedingt verpflichtet sind, uns in unserem Handeln an der allgemeinen argumentativen Konsensfähigkeit unserer Handlungsweise zu orientieren, weil wir mit jeder Handlungsbegründung - ganz gleich wie sie inhaltlich bestimmt sein mag - immer schon auf einen rationalen Konsens zielen. Nach der Auffassung Gewirths muss jeder Handlungsfähige Freiheit und 'Wohlergehen' als notwendige Voraussetzungen seiner Handlungsfähigkeit (sowie schließlich auch der aller anderen Handlungsfähigen) anerkennen und wertschätzen. Reflexive Begründungen zielen also stets auf den Nachweis der 'Unhintergehbarkeit' des Zu-Begründenden als Bedingung der Möglichkeit von etwas, was jedes Moralsubjekt als solches in Anspruch nehmen muss (z.B. Rationalität, Freiheit, Handlungsfähigkeit). Mithin besteht die Pointe reflexiver Begründungen darin, dass sie zwar keine 'Voraussetzungslosigkeit' strictu sensu beanspruchen; dass sie jedoch - dem eigenen Anspruch nach - nur solche Voraussetzungen in Anspruch nehmen, die in jeder Situation, in der überhaupt moralische Begründungfragen auftauchen können, immer schon gegeben sein müssen (z.B. dass es freie und rationale Handlungssubjekte gibt, die irgendwelche Zielsetzungen anstreben, dass eine Sprache existiert, in der sie sich verständigen, Behauptungen aufstellen und Argumente austauschen können, etc.). Die Möglichkeit reflexiver Begründungen als eines dritten Begründungstyps neben linearen und kohärentistischen Begründungen ist in der Diskussion umstritten.

Lineare, kohärentistische sowie reflexive Begründungsfiguren können auf verschiedene Weise miteinander kombiniert werden. Am ehesten verstehen die Vertreter und Vertreterinnen des Kohärentismus ihre begründungstheoretische Position als selbstgenügsam. Der intuitionistische 'Fundamentalismus' findet im gegenwärtigen Diskurs der normativen Ethik kaum noch Anhang.

3.5 Universalismus vs. Partikularismus

Die Unterscheidung zwischen universalistischen und partikularistischen (z.B. egoistischen oder kontextualistischen) Konzeptionen normativer Ethik ist bereits im Zusammenhang mit der Skizze des universellen Präskriptivismus angedeutet worden (für eine differenziertere Auseinandersetzung vgl. den Beitrag "Universalisierung"). Während der Universalismus besagt, dass moralische Urteile den Kontext, in dem sie getroffen werden, transzendieren - genauer: dass moralische Urteile stets Gültigkeit auch für alle anderen qualitativ übereinstimmenden Kontexte prätendieren müssen -, bestreiten dies die Vertreter/innen des Partikularismus. Nun fällt es aus Sicht des Universalismus leicht nachzuweisen, dass in Argumentationen per se der Universalismus sozusagen strukturell eingebaut ist und dass somit der Versuch, sich dem Postulat der Universalisierbarkeit moralischer Begründungen völlig zu entziehen, nur durch den völligen Verzicht auf verständliches Argumentieren gelingen könnte. Allerdings sollte es stutzig machen, wenn Siege derart leicht errungen werden. Tatsächlich ändert ja die intern universalistische Struktur begrifflichen Argumentierens nichts an der Tatsache, dass die konkrete Realität moralischer Handlungssituationen einschließlich der sie prägenden sinnlichen Erfahrungen und subjektiven Empfindungen niemals vollständig, mit all ihren Eigenheiten begrifflich erfasst werden kann. Jeder Versuch, allgemeine Regeln des richtigen Handelns zu formulieren und diese auf konkrete Situationen - und konkrete Menschen - zu applizieren, steht daher ständig in der Gefahr, deren Eigentümlichkeit zu vernachlässigen und ihnen dadurch Unrecht zu tun. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Ausbildung moralischer Sensibilität und moralischen Urteilsvermögens als unverzichtbares Korrelat ethischer Theoriebildung (vgl. dazu den Beitrag "Moralpädagogik").

3.6 Prinzipenethik, Normenethik, Maximenethik, Situationsethik

Akzeptiert man es als Aufgabe der normativen Ethik, allgemeine (d.h. universelle) Regeln des moralisch richtigen Verhaltens zu formulieren, zu begründen oder zu kritisieren, so gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie generell oder spezifisch diese Regeln formuliert sein können, und - damit zusammenhängend - verschiedene Möglichkeiten, die 'Anwendung' dieser Regeln zu verstehen (vgl. zum Folgenden den Beitrag "Prinzip, Maxime, Norm, Regel"). Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich die vorfindlichen Konzeptionen normativer Ethik. Was die Generalität bzw. Spezifität der jeweils in den Blick genommenen moralischen Regeln anbelangt, lässt sich ein breites Spektrum graduell abgestufter Möglichkeiten feststellen. Der eine Pol wird durch Prinzipienethiken markiert, wobei unter 'Prinzpienethik' eine Ethik verstanden werden soll, in der in letzter Instanz nur eine einzige Regel maßgeblich ist, die dann üblicherweise als Moralprinzip bezeichnet wird. Das eindeutigste Beispiel für eine Ethik dieses Typs ist vielleicht der Utilitarismus, der - in der handlungsutilitaristischen Standardform - nur eine einzige normative Verpflichtung kennt: die Verpflichtung zur Maximierung des Gesamtnutzens. An ihr sollen die Moralsubjekte ihr gesamtes Verhalten orientieren. Alle spezifischeren moralischen Ge- und Verbote - beispielsweise das moralischen Verbot der Folter - sind nur dadurch und nur insoweit begründet, als sie zur Erfüllung des Moralprinzips - also zur Maxminierung des Gesamtnutzens - beitragen. Bei der Prüfung, welche Handlungsweise jeweils richtig ist, wird das Moralprinzip sozusagen unmittelbar auf die Situation angewandt. Auch die Ethik Kants und die an Kant orientierten Ethiken kennen nur ein Moralprinzip. Allerdings fordert deren Prinzip in der 'Anwendung' einen Umweg über die Prüfung der universellen Akzeptabilität spezifischerer Handlungsprinzipien, die Kant 'Maximen' nennt und wodurch das Moralprinzip mit einer Fülle konkreterer Handlungsregulierungen vermittelt wird. (vgl. den Beitrag "Kant"). Die meisten Prinzipienethiken sehen die Möglichkeit vor, das Moralprinzip durch eine Reihe von Regelungen begrenzter Reichweite genauer zu konkretisieren.

Am anderen Pol des Sepektrums der Theoriemöglichkeiten sind die Situationsethikenangesiedelt. Sofern man diese Ethiken nicht als partikularistische Ethiken betrachten muss, lassen sie sich nämlich so verstehen, dass sie für jede qualitativ identische Situation eine eigene Handlungsregel vorsehen. Solche Handlungsregeln müssten freilich so detailliert und spezifisch sein, dass sie in begrenzter Zeit unmöglich artikuliert und somit auch nicht gelehrt oder systematisiert werden können. Vermutlich ist eine solche Auffassung nur in der Form eines Intuitionismus denkbar; moralisches Argumentieren im eigentlichen Sinne ist im Rahmen eines solchen Modells allerdings weder möglich noch nötig.

Zwischen Prinzipien- und Situationsethiken stehen Ethiken, die als Maßstab der Handlungsorientierung eine begrenzte Zahl generellerer Präskriptionen vorschlagen. Diese können etwa die Form von Tugendkonzepten oder von allgemeinen Pflichten oder 'Mittleren Prinzipien' (axiomata media) annehmen. Als Beispiel für eine solche Ethik könnten die Gebote des Dekalogs dienen. Auch Ethiken, die mittlere Prinzipien als höchsten Orientierungspunkt moralischen Handelns vorsehen, also kein singuläres Moralprinzip kennen, werden mitunter als 'Prinzipienethiken' bezeichnet, insbesondere das medizinethische Konzept, das Beauchamp und Childress in den Principles of Biomedical Ethics entwickelt haben. Generell bringen solche Ethiken die Schwierigkeit mit sich, dass bei einer Pluralität rivalisierender Prinzipien mit Kollisionen gerechnet werden muss. Da kein übergeordnetes Prinzip (Moralprinzip) existiert, das in solchen Konfliktfällen Orientierung geben könnte, besteht insoweit nur die Möglichkeit, an das Urteilsvermögen der Moralsubjekte zu appellieren, welches seinerseits nicht durch weitere explizite Kriterien angeleitet wird.

Gleichwohl beharren traditionelle Moralsysteme, wie sie etwa in 'primitiven' Kulturen zu finden sind, auf der strikten Einhaltung von Präskriptionen mittlerer Reichweite. Solche Moralsysteme sind rigoristisch, da auch diejenigen Pflichtverstöße verurteilt (und in der Regel auch geahndet) werden, die aufgrund einer Pflichtenkollision unvermeidlich waren. Manche ethischen Konzeptionen gehen davon aus, dass einige, aber nicht alle moralischen Präskriptionen unbedingt - unter allen Umständen - zu befolgen bzw. 'moral absolutes' sind. Ein bekannter Vertreter dieser Auffassung, die in der englischsprachigen Diskussion meist als 'absolutism' bezeichnet wird, ist Charles Fried. Die entgegengesetzte Position besagt, dass moralische Pflichten als Prima-facie-Pflichten verstanden werden müssen, d.h. als Pflichten, die u.U. durch andere aufgewogen werden können (z.B. Jonathan Dancy).

3.7 Teleologische vs. deontologische Ethiken

Die vielleicht prominenteste Unterscheidung normativ-ethischer Theorien ist schließlich die zwischen teleologischen und deontologischen Ansätzen. An ihr ist auch die Einteilung der normativ-ethischen Theorien in Abschnitt II B des vorliegenden Buches orientiert. Für diese Unterscheidung - wie leider für fast alle Unterscheidungen auf dem Feld der Philosophie - finden sich in der Literatur recht unterschiedliche Definitionsvorschläge (vgl. die Einleitungen zu den jeweiligen Teilen des Handbuchs). In einer vagen, alle heiklen Detailprobleme vermeidenden Formulierung lässt sich zumindest Folgendes festhalten: Im Rahmen teleologischer Ansätze wird die moralische Richtigkeit von Handlungen durch ihren Beitrag zur Realisierung oder Erhaltung eines Guten bestimmt. Deontologische Ansätze implizieren die Auffassung, dass Handlungen aufgrund anderer Charakteristika als ihrer konkreten Folgen moralisch richtig oder falsch sein können. Je nach Interpretation lässt diese vorläufige Formulierung offen, ob es normative Ethiken gibt, die weder deontologisch noch teleologisch sind.

Ein präziserer und weithin anerkannter Unterscheidungsvorschlag findet sich unter anderem bei William K. Frankena und John Rawls. Diese Autoren bezeichnen genau diejenigen Ethiken als teleologisch, die das moralisch Richtige als eine Funktion des vormoralisch Guten bestimmen: Gemäß teleologischen Ethiken sind Handlungen insofern moralisch richtig, als sie zur Maximierung eines vormoralisch Guten beitragen. Deontologische Ethiken werden als Negation teleologischer Ethiken bestimmt: Alle Ethiken, die nicht teleologisch sind, sind demzufolge deontologisch, und keine Ethik kann zugleich deontologisch und teleologisch sein.

Die entscheidende Präzisierung gegenüber der zuvor vorgeschlagenen vagen Formulierung liegt in der Charakterisierung des anzustrebenden Guten als einem vormoralisch Guten. Diese Präzisierung bedeutet: das moralisch relevante Gute muss als 'gut' charakterisiert bzw. definiert werden können, ohne dabei schon auf moralische Kriterien vorzugreifen. Demnach müsste z.B. eine teleologische Ethik, die das moralisch Richtige einer Handlung als ihren Beitrag zur Maximierung des allgemeinen Glücks betrachtet, 'Glück' bestimmen, ohne dabei auf moralische Unterscheidungen zu rekurrieren. Erst nachträglich kann sie dann einen Begriff des Moralischen gewinnen, indem sie das Moralische als Beitrag zur Realisierung des so verstandenen Glücks bestimmt.

Deontologische Ethiken werden, wie gesagt, als Negation der Charakteristika der teleologischen Ethiken definiert. Deontologische Ethiken können demnach, wie Rawls ausführt, entweder dadurch definiert sein, dass sie das zu maximierende Gute in Abhängigkeit vom moralisch Richtigen bestimmen, oder sie werden bestreiten, dass das moralisch Richtige in der Maximierung des nicht-moralisch Guten besteht.

Akzeptiert man die von Frankena, Rawls und vielen anderen vorgeschlagene Unterscheidung, so erhält man einen verhältnismäßig engen Teleologie- und einen sehr weiten Deontologiebegriff: Der Teleologiebegriff umfasst dann ausschließlich konsequentialistisch-teleologische Ansätze, wie etwa - und vor allem - den Handlungsutilitarismus. Diejenigen Ethiken hingegen, die man am besten als onto-teleologische Ansätze bezeichnet, weil sie das zu realisierende Gute als eine dem menschlichen oder physischen Sein bereits inhärierende Zielvorgabe begreifen, fallen nicht mehr in die Klasse der teleologischen Ethiken, sondern müssen als deontologische Ethiken gelten. Denn in diesen Ethiken wird das anzustrebende Gute nicht unabhängig vom moralisch Richtigen bestimmt. Auch beim Regelutilitarismus handelt es sich dann um eine deontologische Ethik (vgl. auch den Beitrag "Utilitarismus"), da nicht jede einzelne Handlung, die moralisch richtig ist, das vormoralisch Gute maximiert.

Andere Definitionsvorschläge - etwa bei Julian Nida-Rümelin - teilen mit Frankena und Rawls zwar den engen konsequentialistischen Teleologiebegriff, fassen aber den Begriff deontologischer Ethiken enger, so dass insbesondere die onto-teleologischen Ethiken einer dritten Kategorie angehören. Warum bei der Zuordnung gerade dieser traditionellen - vor allem in der Antike formulierten oder präformierten - Ethiken Schwierigkeiten auftreten, lässt sich verhältnismäßig einfach erklären: Die Unterscheidung zwischen deontologischen und teleologischen Ansätzen setzt eine klare Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Guten voraus. Diese Unterscheidung ist aber selbst erst im Rahmen der deontologischen Ethik Kants in voller Klarheit und mit nachhaltigen Folgen für die moralphilosophische Debatte formuliert worden, wenngleich sich zweifellos wichtige Vorwegnahmen, zumal in der Ethik der Stoa, ausmachen lassen. Dementsprechend wirkt es vielfach künstlich - und setzt ein hohes Maß angreifbarer Rekonstruktionsarbeit voraus -, diese Unterscheidung auf ethische Konzeptionen zu applizieren, denen sie wesentlich fremd war.

Die Zuordnung normativer Ethiken, die sich in diesem Handbuch findet, orientiert sich dennoch im Wesentlichen an konventionellen Zuordnungen. So werden die onto-teleologischen Konzeptionen, die das moralisch Richtige zwar in der Realisierung eines Guten sehen, dieses aber nicht moralunabhängig fassen, trotz aller Schwierigkeiten gemeinsam mit dem Utilitarismus im Teleologie-Teil behandelt. Diskussionen hat allerdings die Zuordnung vertragstheoretischer (kontraktualistischer) Ansätze zu den deontologischen Theorien ausgelöst, weil im Rahmen der meisten kontraktualistischen Ethiken letztlich das individuelle Nutzenstreben den Hintergrund für die Einigung auf moralische Regeln bildet. Gleichwohl kommt diesen Regeln, nachdem sie einmal als Ergebnis eines (fiktiven) interessensbasierten Vertrages hervorgegangen sind, ein zumindest relatives eigenständiges Gewicht gegenüber den individuellen Nutzenmaximierungskalkülen zu. (Inwieweit es überhaupt denkbar ist, dass rein interessenbasierte Verträge eine Bindekraft entfalten, die sich im Einzelfall auch gegen individuelle Interessen geltend macht, ist freilich eine berechtigte Frage, die auf das Grundproblem kontraktualistischer Theorien verweist.)

Erläuterungsbedürftig ist insbesondere die dritte in diesem Handbuch vorgesehen Rubrik normativer Ethiken. Die Entscheidung, neben teleologischen und deontologischen Ethiken einen eigenen Teil für 'schwach normative und kontextualistische' Ansätze einzurichten, muss nicht als Zustimmung zu der These verstanden werden, dass die Distinktion zwischen deontologischen und teleologischen Ethiken unvollständig ist; dass also eine dritte Kategorie normativ-ethischen Argumentierens existiert. Entscheidend für die Aufnahme einer solchen Rubrik - und für die entsprechenden Zuordnungen - war vielmehr allein die Tatsache, dass es ethische Theoriefamilien gibt, für die zweierlei gilt: Erstens werden sie nicht, wie beispielsweise die onto-teleologischen Ansätze oder die kantische Ethik, üblicherweise der ein oder anderen Position fest zugeordnet. Zweitens gilt für diese Ansätze, dass die Zugehörigkeit zu einer der beiden Kategorien für sie nicht charakteristisch ist, ganz unabhängig davon, an welcher gängigen Definition von Deontologie und Teleologie man sich orientiert. So wird im Rahmen einer Konzeption wie der hermeneutischen Ethik, bei der die hermeneutische Klärung des Sinns moralischer Auffassungen und Einstellungen im Vordergrund steht, die Bedeutung teleologischer und deontologischer Argumentationsmuster nicht durch die Theorie vorgegeben. Vielmehr ist diese Bedeutung kontextabhängig; und dasselbe gilt, mutatis mutandis, für alle kontextualistischen Ansätze, zu denen auch der Kommunitarismus gehört. Der Kohärentismus, als eine sehr allgemeine und umfangreiche (beründungstheoretisch charakterisierte) Familie normativ-ethischer Theorien ist nicht auf eine Position innerhalb der Deontologie-Teleologie-Dualität festgelegt. Im Falle der Klugheitsethik schließlich ist fraglich, inwieweit diese überhaupt als normative Ethik verstanden werden kann, d.h. inwiefern es ihr überhaupt darum geht, ein genuines Verständnis des moralisch Richtigen auszuweisen. Daher entzieht sie sich ebenfalls - jedenfalls in einigen Varianten - einer eindeutigen Zuordnung im Rahmen der Deontologie-Teleologie-Unterscheidung.

4. Die Bedeutung der (Angewandten) Ethik in der aktuellen Diskussion

4.1 Zur aktuellen Relevanz der ethischen Diskussion

Für die starke öffentliche und wissenschaftliche Resonanz, die der ethischen Diskussion in jüngster Zeit zuteil wurde, kann eine Reihe von Ursachen ausgemacht werden. Zum einen gab es in den letzten Jahrzehnten zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen, die eine Erosion tradierter Wertüberzeugungen zur Folge hatten. Dazu zählt das Zurücktreten der Religionen als verbindlicher moralischer Autoritäten, der Wandel von tradierten Sozialformen, die durch die Massenmedien bewirkte Veränderung von Strukturen der Öffentlichkeit, die immer deutlicher wahrzunehmende Bedrohung der natürlichen Umwelt sowie die rasant voranschreitende Neugestaltung von internationalen Beziehungen im politischen und wirtschaftlichen Bereich. Zudem ist durch wissenschaftliche und technische Veränderungen eine Vielzahl von neuen Handlungsfeldern und Handlungsmöglichkeiten entstanden. Mit diesen Stichworten sind Transformationsprozesse angesprochen, aus denen ein ethischer Reflexionsbedarf hervorgeht. Dabei handelt es sich zum einen um moralische Fragestellungen, die teilweise inhaltlich neu sind oder doch traditionelle moralische Fragen in einem neuen Licht erscheinen lassen, zum anderen geht es um den Verlust von gemeinsam geteilten moralischen Überzeugungen. Das Verschwinden moralischer Selbstverständlichkeiten sowie das Aufkommen von neuen Gegenständen moralischer Reflexion sind somit als Ursachen für eine wachsenden Bedarf an Ethik anzusehen.

Zugleich ist jedoch die Möglichkeit fachphilosophischer ethischer Diskussionen nach wie vor stark umstritten. Zweifel an der Möglichkeit, Ethik im Rahmen einer wissenschaftlichen Disziplin zu betreiben, erwachsen zum Teil aus dem Erkenntnisstand verschiedener empirischer Wissenschaften. Aus der Sicht mancher Forschungszweige scheint etwa die Annahme der menschlichen Handlungsfreiheit, als Grundlage von Moralität überhaupt, weitgehend unplausibel. So hat es unterschiedliche Versuche gegeben, menschliches Verhalten im Rahmen der Verhaltensforschung oder der Evolutionstheorie als biologisch determiniert zu erweisen. Analoge Versuche wurde im Rahmen der Sozialwissenschaften und der Psychologie unternommen. Gelänge es aber, die vollständige Determination menschlichen Verhaltens durch biologische, psychische oder soziale Sachverhalte zu belegen, dann wäre die Frage nach den Maßstäben moralisch richtigen oder guten Handelns hinfällig. Nun haben jedoch die meisten dieser Disziplinen am Erklärungswert ihrer Theorien in den letzten Jahrzehnten selbst starke Einschränkungen vornehmen müssen, so dass die Determinismusthese im angedeuteten Sinne heute nicht mehr sehr plausibel erscheint. Auch in neueren Forschungsfeldern, etwa im Bereich der Molekular- oder Neurobiologie, werden immer wieder deterministische Erklärungsmodelle vertreten, aber bereits die Tatsache, dass in diesen Disziplinen zunehmend auf kybernetische oder systemtheoretische Ansätze zurückgegriffen wird, scheint anzuzeigen, dass die klassisch deterministischen Konzepte an ihre Grenzen geraten sind. Jedenfalls gibt es keine zwingenden Belege gegen die - für unser lebensweltliches Selbstverständnis ohnehin konstitutive - Annahme, dass das menschliche Handeln zwar von vielfältigen naturalen, sozialen und psychischen Faktoren beeinflusst ist, wir aber dennoch über die Fähigkeit verfügen, uns reflexiv zu diesen Faktoren zu verhalten und echte Entscheidungen zu treffen. Zudem gibt es ernst zu nehmende epistemologische Bedenken gegen die Erwartung, dass Belege für einen strengen Determinismus überhaupt einmal gefunden werden können.

Über diese Frage hinaus wurde in vielen sozialwissenschaftlichen Debatten die Einsicht in die Kulturabhängigkeit von Wertüberzeugungen als hinreichender Grund dafür angesehen, dass die ethisch-normative Diskussion über allgemein verbindliche moralische Prinzipien abzulehnen sei. Moral wurde in erster Linie als soziales Phänomen verstanden, das nur in Relation zum jeweiligen historisch-kulturellen Kontext verstanden werden könne. Von wissenschaftlichem Interesse ist nach dieser Sichtweise allenfalls die Rekonstruktion der sozialen Funktionen, die mit bestimmten Wertüberzeugungen verbunden sind. Eine nahe liegende Konsequenz dieser Auffassung ist die These vom Relativismus moralischer Überzeugungen. Bis in die 1970er Jahre wurde diese Konsequenz jedoch häufig dadurch vermieden, dass der historische Wandel von Wertüberzeugungen durch geschichtsteleologische Modelle aufgefangen wurde. Mit dem Glaubwürdigkeitsverlust des historischen Materialismus haben solche geschichtsphilosophischen Konstruktionen allerdings an Attraktivität verloren. Für die Ethik als Disziplin, die systematisch auf die Begründung von moralischen Urteilen, Regeln und Prinzipien reflektiert, bestand in diesen Diskussionen offenbar wenig Raum. (Etwas anderes gilt allenfalls für nicht-deterministische, normativ-rekonstruktive Entwicklungsmodelle, wie sie im Anschluss an Kohlberg herausgearbeitet worden sind.)

Diesen - auf tatsächliche oder vermeintliche Einsichten der Erfahrungswissenschaften - gestützten Zweifeln an der bloßen Möglichkeit der Ethik als Disziplin zur Prüfung und Begründung von moralischen Normen korrespondierten im Laufe des 20. Jahrhunderts Entwicklungen innerhalb der Philosophie, die aus internen Gründen gegen die Möglichkeit einer philosophischen Ethik Bedenken anmeldeten. In der phänomenologischen und hermeneutischen Philosophie war die Ethik als systematische Disziplin allenfalls in der - etwas randständigen, wenngleich im Nachkriegsdeutschland die Verfassungsrechtsprechung durchaus beeinflussenden - wertethischen Variante von Max Scheler und Nicolai Hartmann präsent. Auch die Analytische Philosophie entwickelte erst in den 1960er Jahren ein verstärktes Interesse an ethischen Fragen. Neben metaethischen Analysen und Problemen der deontischen Logik stießen Fragen der normativen Ethik im Laufe der 1960er und 1970er Jahre v.a. im Kontext der Politischen Philosophie auf Interesse. Besonders die Diskussion um John Rawls' Theory of Justice diente als Kristallisationspunkt einer Diskussion über die moralischen Verbindlichkeiten einer modernen Gesellschaft. Vor allem ging es dabei um die Frage, inwiefern grundlegende Gerechtigkeitsintuitionen, das Sozialstaatsgebot oder Maßnahmen zur Bekämpfung von eklatanten Ungleichheiten - unbeschadet eines weltanschaulichen und axiologischen Pluralismus - allgemeine Verbindlichkeit für sich in Anspruch nehmen können. Die Diskussionen der normativen Ethik konzentrierten sich in aller Regel zunächst darauf, was als normativer Grundbestand einer modernen Gesellschaft zu gelten habe. Seit Ende der 1970er Jahre wurde jedoch im Rahmen der Angewandten Ethik zunehmend auch nach allgemeinen moralischen Beurteilungen von konkreten Handlungsfeldern gefragt, die mit den Entwicklungen in Wissenschaft und Technik zusammenhängen oder als Folgeprobleme einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft zu verstehen sind.

Ausgehend von einem angesichts komplexer Handlungsfelder immer stärker werdenden Reflexionsbedarf und vor dem Hintergrund der binnenphilosophischen Forderung nach einer 'Rehabilitierung der praktischen Philosophie' erfuhren auch die Grundlagendiskurse der Ethik in den 1980er und 1990er Jahren neue Impulse. Eine Reihe von ethischen Grundbegriffen, wie 'Verantwortung', 'Personalität', 'Würde' oder 'Rechte', wurde problematisch, weil ihre Verwendung in veränderten Handlungskontexten nicht mehr ohne weiteres möglich schien. Zum Beispiel hat die Forderung nach einer moralisch angemessenen Berücksichtigung von Tieren dazu geführt, dass verstärkt über die moralische Relevanz und die Anwendungsbedingungen der Begriffe 'Rechte' und 'Würde' nachgedacht wurde. Ebenso musste die Verwendung von neuen Techniken in komplexen Handlungszusammenhängen fast zwangsläufig die Frage nach der Reichweite und der Zuschreibbarkeit von Verantwortung aufwerfen. Und schließlich hat die Einsicht in die moralische Schutzwürdigkeit der nicht-menschlichen Umwelt dazu geführt, dass der Gegenstandsbereich der Moral ebenso zum zum Thema ethischen Nachdenkens wurde wie die Frage, wem alles moralischer Schutz zu gewähren sei.

Die öffentliche Diskussion und die gesellschaftlichen und politischen Regelungsprobleme haben also lebhafte und bisweilen ausgesprochen kontrovers geführte Grundlagendiskurse in der Ethik ausgelöst. Darüber hinaus ist mit der Zulassung der Ethik zu den relevanten Gegenständen der philosophischen Diskussion auch die Frage nach den Grundlagen allgemein verbindlicher Urteile auf die philosophische Agenda gerückt. Selbst wenn die Möglichkeit ethischer Erkenntnis nach wie vor umstritten bleibt, wurden die verschiedenen Konzepte zur Begründung moralischer Verbindlichkeiten doch äußerst lebhaft diskutiert. Neben klassischen, utilitaristischen, deontologischen und kontraktualistischen Theorien sind besonders im Rahmen der Angewandten Ethik auch kasuistische, tugendethische und kohärentistische Ansätze ins Spiel gebracht worden. Viele Autoren entziehen sich freilich auch den Begründungsdiskussionen, indem sie das Problem der Pluralität ethischer Theorien durch Rekurs auf eine kohärente Rekonstruktion moralischer Überzeugungen oder vor-theoretisch geteilter lebensweltlicher Überzeugungen zu umgehen versuchen.

Diese Diskussionen sind nicht abgeschlossen. Aber zweifellos hat der Reflexionsbedarf im Hinblick auf die moralischen Grundlagen der Moderne sowie das gesellschaftliche Interesse an ethischen Fragen überhaupt in hohem Maße dazu beigetragen, dass sich äußerst produktive Auseinanderstzungen innerhalb der 'Ethik' ergeben haben. Weitgehend unklar ist allerdings, welcher Beitrag von der Ethik für die öffentlichen Debatten zu erwarten ist. Gewiss sind Ethiker/innen stärker in der Öffentlichkeit vertreten als dies bei Philosophinnen und Philosophen üblicherweise der Fall ist. Aber deswegen ist die Rolle der Ethik im und ihr Beitrag zum öffentlichen Diskurs noch längst nicht hinreichend geklärt. Bisweilen scheint man gegenüber der Ethik sogar die Erwartung zu hegen, sie solle als säkulare Nachfolgeinstitution der Kirchen auftreten. Als die ersten Diskussionen zum Thema 'Organentnahme und Hirntod' Ende der 1950er Jahre geführt wurden, haben sich Ärzte hilfesuchend an den Papst gewandt, der die Frage seinerseits an die Naturwissenschaften weiterleitete. Seit den 1970er Jahren wird bei derartigen gesellschaftlichen Streitfragen eine Ethikkommission eingerichtet. Der Status solcher Beratungen und Empfehlungen ist allerdings unklar. Seitens der Politik wird häufig versucht, mit der Einrichtung von Ethikkommissionen, politischen Beratungsgremien oder Ethikräten eigenständige Institutionen zu schaffen, in denen Entscheidungsgrundlagen entwickelt werden, die dann Parlamente, Regierungen und politische Parteien aus dem Streit weltanschaulicher Gruppen heraushalten sollen. Der Effekt ist jedoch außerordentlich zweifelhaft. Zum einen deutet vieles darauf hin, dass eine moderne Gesellschaft keineswegs bereit ist, strittige Fragen an semi-demokratische Gremien zu delegieren. Zum anderen stellt sich auch die Frage, kraft welcher Kompetenz die Expertengremien Gegenstände der demokratischen Willensbildung vorentscheiden. Da diese Gremien in der Regel interdisziplinär zusammengesetzt sind, ergibt sich häufig die Situation, dass die Regelung von moralisch strittigen Fragen, durch eine Kommission aus Biologen, Medizinern, Juristen, Theologen und Philosophen präjudiziert wird. Die Tatsache, dass dieses Präjudiz unter dem Label 'Ethik' figuriert, wirft die Frage auf, was denn genau Maßstäbe und Kompetenzerwartungen an die Ethik in einer modernen Gesellschaft sein könnten. Ethik kann und soll eine demokratische Willensbildung nicht ersetzen, sondern sollte ihre genuine Reflexionskompetenz in diesen Diskussionsprozess einbringen.

Unstrittig ist also, dass die moderne Gesellschaft einen Bedarf an Reflexion über die moralischen und evaluativen Grundlagen unseres Selbstverständnisses, unseres Zusammenlebens sowie über die Rolle von Wissenschaft und Technik hervorgebracht hat. Zunehmend werden auch in der Philosophie derartige Reflexionen angestellt. Dennoch scheint die entsprechende Aufgabe der Ethik noch nicht hinreichend geklärt zu sein. Jedenfalls taugt sie kaum als Moderator in gesellschaftlichen Streitfragen oder als Puffer für gesellschaftliche Kritik an neuen Technologien.

4.2 Das Selbstverständnis der Ethik in der aktuellen Diskussion

Wie jedoch versteht sich die Disziplin selbst im Rahmen dieser aktuellen Diskussionen? Wie in kaum einer anderen philosophischen Teildisziplin ist dieses Selbstverständnis derzeit stark im Fluss. Ein geschlossenes Bild lässt sich kaum zeichnen. Das hängt mit den gewachsenen gesellschaftlichen Erwartungen an das Fach, mit der Erweiterung des thematischen Spektrums und mit einer unklaren disziplinären Zuordnung zusammen. 'Ethik' ist zunächst eine Teildisziplin von Philosophie und Theologie. Mit der verstärkten Zuwendung zu aktuellen Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Technik wird sie aber auch in anderen fachlichen Kontexten angesiedelt, wie etwa in der Medizin. Nun ist die notwendige Interdisziplinarität zwar weitgehend unumstritten, doch im Zusammenhang mit einer interdisziplinär verfahrenden Angewandten Ethik stellt sich durchaus die Frage, durch welche Kompetenz sich der genuin ethische Charakter des Forschungszweiges legitimiert. Dem Selbstverständnis einiger Ethiker entsprechend wird 'Ethik' als systematische Entfaltung einer bestimmten weltanschaulich gebundenen Perspektive betrachtet oder auch als Ausarbeitung eines Standesethos. Ärztliche Ethik definiert sich dann beispielsweise in Abhängigkeit vom Berufsethos der medizinischen Zunft. Nicht wenige Ethiker/innen sehen ihre Rolle auch in der Moderation und Kanalisierung eines emotional aufgeheizten öffentlichen Diskurses über moralische Streitfragen. Dieses fachliche Selbstverständnis kommt gesellschaftlichen Erwartungen und Bedürfnissen zweifellos entgegen; es ist jedoch fraglich, ob die genuine Zielbestimmung ethischen Argumentierens damit nicht verfehlt wird.

Die Moderation gesellschaftlicher Diskurse und die Kompromissfindung eignen sich kaum als Grundlage für das Selbstverständnis einer wissenschaftlichen Disziplin. Solche kontextgebundenen pragmatischen Zielbestimmungen taugen nicht als erkenntnisleitende Interessen wissenschaftlicher Forschung, sondern sind vielmehr Aufgaben der politischen Willensbildung und gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Diese Aufgaben können in einer Demokratie nicht an Fachleute delegiert, sondern nur von den Bürgerinnen und Bürgern selbst sowie ihren Repräsentantinnen und Repräsentanten wahrgenommen werden. Sofern die Ethik nur die Kraft des Arguments auf ihrer Seite hat, wird sie zu weltanschaulichen Vorannahmen und Wertüberzeugungen von Berufsgruppen noch einmal eine kritische Distanz einnehmen müssen. Auch in der interdisziplinären Ethik werden daher, sobald es um eine präskriptive Dimension geht, die Begründungsmöglichkeiten der normativen Ethik den Maßstab abgeben.

Derzeit wird diese Aufgabenbeschreibung jedoch in der Ethik selbst unterschiedlich eingeschätzt. Viele Ethiker/innen sehen ihre Aufgabe lediglich darin, Handlungsalternativen zu beschreiben, moralische Begriffe zu analysieren und den moralischen Diskurs unter Kohärenzgesichtspunkten zu kritisieren. Letztlich wäre die Methode der Ethik damit ausschließlich deskriptiv und analytisch. Nun ist es, wie gesehen, unstrittig, dass auch eine solche deskriptive und analytische Reflexion auf Moral zu den Aufgaben der Ethik zählt. Wenn sich die wissenschaftliche Aufgabe der Ethik jedoch darin erschöpfen würde, hätten sich Ethiker/innen im Grunde jeder normativen oder auch nur empfehlenden Äußerung zu enthalten. Sobald eine präskriptive Dimension erreicht wird, muss die/der Ethiker/in die entsprechenden Empfehlungen auf der Grundlage der normativen Theoriebildung legitimieren. Nun will (und kann) kein/e Ethiker/in dieser präskriptiven Dimension entgehen, wenn etwa Autonomie, Leidensvermeidung, Lebensschutz, Umweltschutz oder Ähnliches positiv bewertet werden, wenn Autonomie geschützt oder Ehrlichkeit eingefordert wird usw. Da es zu den Aufgaben der Ethik gehört, all diese Stellungnahmen mit den theoretischen Mitteln der Disziplin einzuholen, besteht in der Disziplin 'Ethik' keine Möglichkeit, sich aus dem Begründungsdiskurs der normativen Ethik herauszuhalten.

4.3 Zur Relevanz der angewandten Ethik und ihre wichtigsten Themen

Die Angewandte Ethik hat die öffentliche Wahrnehmung der Ethik wesentlich verändert, das thematische Spektrum erweitert und eine Reihe von grundlegenden moralphilosophischen Diskussionen angeregt. Die Angewandte Ethik ist insofern nicht allein als Anwendung ethischer Theorien auf bestimmte Praxisbereiche zu verstehen. Vielmehr ist damit zugleich die Herausforderung an die ethische Theoriebildung verbunden, ihre Begriffe und Konzepte zu präzisieren und hinsichtlich ihrer Anwendungsbedingungen neu zu reflektieren. Vielfach wird daher der Begriff 'Angewandte Ethik' kritisiert, da er zu einseitig eine bloß technische Anwendung von Theorien auf Praxisbereiche suggeriere. Eine attraktive terminologische Alternative ist allerdings noch nicht in Sicht. Der Begriff 'anwendungsorientierte Ethik' etwa vermeidet die möglichen Missverständnisse des Anwendungsbegriffs auch nicht, und die Begriffe 'praktische bzw. praxisorientierte Ethik' sind schon deshalb wenig präzise, weil Ethik stets als Reflexion auf Praxis zu begreifen ist und darüber hinaus nicht nur mit der Angewandten sondern auch mit der Fundamental- und Metaethik Orientierungsfunktionen für die Praxis verbunden sind. Bis eine überzeugendere Alternative präsentiert wird, ist daher der Begriff 'Angewandte Ethik', der auch international als 'Applied Ethics' durchaus eingeführt ist, als Sammelbezeichnung für die Bereichsethiken weiterhin sinnvoll und angemessen.

Die Themen und die Aufteilungen der Bereichsethiken sind keineswegs eindeutig. Allgemein lässt sich sagen, dass sich die Arbeitsgebiete der Angewandten Ethik besonders an Handlungsfeldern entzünden, in denen neue moralische Fragen aufgeworfen werden. In der Regel ist dabei nicht eo ipso klar, ob mit den neuen Handlungsfeldern auch wirklich neuartige moralische Fragestellungen verbunden sind, sondern auch diese Problemerhebung ist als Teil des Aufgabenbereichs der Angewandten Ethik zu begreifen. Eine traditionelle Unterscheidung von Individual- und Sozialethik unterschied zwischen Fragen der individuellen Lebensführung und Fragen des menschlichen Zusammenlebens. In den letzten Jahrzehnten wurden jedoch zunehmend Fragen der individuellen Lebensführung nicht mehr (oder nur sehr indirekt) als Gegenstand moralischer Normierung angesehen. Sozialethik hingegen bezeichnet nicht so sehr einen Bereich der Angewandten Ethik, sondern eher eine methodische Zugangsweise, in der die soziale Dimension der verschiedenen Handlungsbereiche der Angewandten Ethik im Vordergrund der Reflexion stehen. In diesem Sinne ist der Begriff 'Sozialethik' etwa mit den Begriffen 'Feministische Ethik' oder 'Gender-Ethik' vergleichbar, bei denen die Relevanz des 'Geschlechts' in moralischen Fragestellungen besonders pointiert beachtet wird.

Die Themen der Angewandten Ethik ergeben sich zum einen aus den großen Handlungsbereichen der Gesellschaft bzw. ihrer Institutionen, wie Politik, Recht und Wirtschaft. Die Nomenklaturen sind allerdings uneindeutig. In der Wirtschaftsethik geht es zum Teil um allgemeine Fragen der Gestaltung des Wirtschaftssystems, der Implementierung von Gerechtigkeitsforderungen sowie moralischer Aspekte des globalen Wirtschaftssystems. Es geht aber auch in der Betriebs- oder Unternehmensethik um konkrete Fragen der Verantwortung in Unternehmen. Viele Themen der Politischen Ethik und Rechtsethik werden in der Politischen Philosophie oder Rechtsphilosophie abgehandelt. Die Terminologie ist vielleicht weniger bedeutsam, doch verbindet sich damit auch eine sachliche Frage. Rechtsphilosophie und Politische Philosophie haben verschiedene Aufgaben. Sie analysieren fundamentale Begriffe von Recht und Politik, fragen nach der Legitimation von Institutionen (wie etwa Völkerrecht, Strafrecht etc.) und behandeln spezifisch moralisch-normative Fragen von Recht und Politik (etwa nach der Legitimation von militärischen Interventionen oder der moralischen Begründung des Sozialstaats). Nun ist es vermutlich unstrittig, dass Rechtsphilosophie und Politische Philosophie sich nicht in den normativ-ethischen Fragen erschöpfen. Umstritten ist jedoch, inwiefern sie bei der Frage nach der Legitimation von Institutionen und bei den moralisch-normativen Fragen auf den moralphilosophischen Begründungsdiskurs zurückverwiesen sind - und insofern als Rechtsethik oder Politische Ethik aufzutreten haben - oder gerade eine Legitimationsbasis finden müssen, die nicht von moralphilosophischen Begründungskonzepten abhängig ist. So versuchen etwa einige kontraktualistische oder kohärentistische Konzepte eine Art Verbindlichkeit höherer Stufe zu etablieren, die sich theorieneutral zu verhalten sucht. Dabei erhebt sich natürlich die Frage, ob das gelingen kann, oder ob nicht jede Legitimation der Institutionen von Recht und Politik wiederum (implizit oder explizit) bestimmte Voraussetzungen macht, die in normativ-ethischer Hinsicht nicht neutral sind, sondern nur im Rahmen bestimmter Ethik-Konzepte kohärent rekonstruiert werden können.

Die bislang genannten Bereiche der Angewandten Ethik sind im Wesentlichen von der ethischen Reflexion auf zentrale Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenleben her zu verstehen. Immer mehr jedoch drängen sich in der Angewandten Ethik Themen in den Vordergrund, die traditionell nur sehr eingeschränkt als Gegenstände der ethischen Reflexion angesehen wurden. Dazu zählen die Aktivitäten in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft (Bio- und Medizinethik), die verschiedenen Aspekte von technischen Anwendungen (Technikethik), die Reflexion auf moralische Aspekte der medialen Durchdringung unserer Wirklichkeit (Medien- und Informationsethik) sowie der Umgang mit der unbelebten Natur (Umweltethik) und mit Tieren (Tierethik). Die Zuordnung der verschiedenen Bereiche ist wiederum in der Literatur uneinheitlich. Wenn etwa Technikethik als Reflexion auf Technik in einem umfassenden Sinne verstanden wird, so umfasst sie weite Bereiche der Medizin- und Medienethik, bei denen es zum großen Teil um die Anwendung neuer Techniken geht. In der Regel wird Technikethik aber nicht hierfür als Oberbegriff gefasst, sondern als Reflexion auf die moralische Dimensionen von Großtechnologien, die damit verbundenen begrifflichen Konzepte (Fehlerfreundlichkeit, Risiko etc.) sowie auf die Verantwortung der Technikbetreiber. Auch sind in der Technikethik fundamentale Konzepte entwickelt worden (etwa beim Risikodiskurs in der Kernenergiediskussion), die nun auch bei der Diskussion um Gen- und Biotechnologie als Argumentationsfolie fungieren.

Medizin-, Umwelt und Tierethik werden zudem häufig unter dem Obergebriff 'Bioethik' zusammengefasst. In den USA wurde Bioethik über lange Zeit als 'Biomedizinische Ethik' verstanden. In der Medizinethik geht es jedoch nicht nur um die exponierten Handlungsfelder der medizinischen Forschung, sondern auch um Fragen nach der Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen, nach den Arbeitsabläufen in medizinischen Institutionen oder um das Berufsethos der medizinischen Profession. Schon aus diesem Grund ist es fraglich, ob Medizinethik einfach unter dem Label 'Bioethik' subsumiert werden soll. Präziser gefasst kann 'Bioethik' als ethische Reflexion auf den Umgang mit dem Lebendigen begriffen werden, wobei es dann um moralische Fragen am Anfang und Ende des menschlichen Lebens (Schwangerschaftsabbruch, Organtransplantation, Sterbehilfe) geht sowie um Fragen von Reproduktionsmedizin, Gentechnik und Klonierungstechnologien. Diese Technologien sind aber nicht auf den Menschen beschränkt, sondern kommen bei allen Lebensformen zur Anwendung. Da besonders die ethische Diskussion um die Gentechnik hier eine prominente Rolle einnimmt, wird dieser Bereich häufig auch unter dem Begriff 'Genethik' zusammengefasst. Mit der zunehmenden biotechnologischen Veränderung der Nahrung haben sich zudem Fragen nach der Qualität und Sicherheit der menschlichen Nahrung herauskristallisiert. Diese Diskussionen haben sich inzwischen weit über die Debatte um gentechnisch veränderte Nahrungsmittel hinaus zu einer Reflexion auf die menschliche Nahrung insgesamt ausgeweitet, so dass auch eine eigene Diskussion um die 'Food Ethics' etabliert wurde.

Die genannten Bereiche überschneiden sich deutlich mit der Tier- und Umweltethik. Häufig wird daher ‚Bioethik' als Dachbegriff für Medizin-, Tier- und Umweltethik verwendet. Dabei sind beide Bereiche nur zum Teil als Bereichsethik zu sehen. Mit der Frage, welchen Status das Tier in der Moral einnimmt, verbindet sich eine ganz grundlegende Herausforderung für unser Verständnis von Moral und Ethik, so dass sich ein Großteil der tierethischen Literatur mit konzeptionellen Fragen des normativen Begründungsdiskurses beschäftigt. Die Umweltethik unter die Bioethik zu subsumieren, ist schon allein deshalb fragwürdig, weil es ihr nicht nur um den Umgang mit der belebten, sondern auch mit der unbelebten Natur geht. Etwa bei der Diskussion um den Schutz von Landschaften und Naturressourcen spielt die Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter Natur keine zentrale Rolle mehr. Hingegen sind hier Fragen der Wirtschafts- und Politischen Ethik berührt.

Die Zuordnungsfragen der verschiedenen Themenbereiche sind in systematischer Hinsicht jedoch nur von nachgeordneter Bedeutung. Wenn man sich den heuristischen Charakter dieser Begriffe vor Augen führt und auch die bisweilen kontingenten Entstehungskontexte der Teildisziplinen im Auge behält, kann man Überschneidungen und Heterogenitäten zwanglos zugestehen. Zugleich ist jedoch bereits mit der Benennung von Bereichsethiken eine Teilautonomie und nicht selten eine inhaltliche Präjudizierung verbunden. So ist in der Medizinethik die Tendenz zu konstatieren, das ärztliche Ethos zu einer normativen Bezugsgröße zu erheben. Auch mit der Fixierung des Begriffs 'Bioethik' sind teilweise unreflektierte Implikationen hinsichtlich des Lebensbegriffs verbunden. Wesentlich scheint es hier, die Angewandte Ethik im Horizont des gesamten als Ethik bekannten Reflexionsbemühens zu begreifen. Jede Angewandte Ethik wird sich auf die Besonderheiten ihres Bereichs einlassen müssen. Die 'Wirtschaftsethik' muss auf sozial- und gesellschaftstheorethische Diskussionen zurückgreifen oder die Bioethik muss auf die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen von Medizin und Biologie reflektieren. Darüber hinaus spielen in jedem der genannten Bereiche anthropologische und hermeneutische Fragen eine Rolle. Insofern ist eine Ausdifferenzierung und partielle Autonomie der Bereichsethiken gar nicht zu vermeiden. Gleichwohl ist jede Bereichsethik an den Theoriediskurs der normativen Ethik zurückgebunden. Kurzfristig kann man unter Angewandter Ethik natürlich auch eine theoriefreie Beratung von Politikern oder Ärzten verstehen. Langfristig wird die Angewandte Ethik sich nur dann als seriöses Unternehmen etablieren, wenn sie eine Methodik entwickelt, die den Weg von den moralphilosophischen Grundlagendiskursen zu ihren Anwendungsdimensionen in den vielfältigen Kontexten transparent darlegen kann.


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